Suche

» erweiterte Suche » Sitemap

Gesellschaft / Kultur

Philipp Keim

Erste Deutsche an der Wolga: Vom Schicksal und Leid der Auswanderer

ISBN: 978-3-95425-644-0

Die Lieferung erfolgt nach 5 bis 8 Werktagen.

EUR 34,99Kostenloser Versand innerhalb Deutschlands


» Bild vergrößern
» weitere Bücher zum Thema


» Buch empfehlen
» Buch bewerten
Produktart: Buch
Verlag:
disserta Verlag
Imprint der Bedey & Thoms Media GmbH
Hermannstal 119 k, D-22119 Hamburg
E-Mail: info@diplomica.de
Erscheinungsdatum: 10.2014
AuflagenNr.: 1
Seiten: 200
Sprache: Deutsch
Einband: Paperback

Inhalt

Das vorliegende Buch über die Wolgadeutschen ist dem ersten Jahrhundert der Kolonisten an der Wolga gewidmet, also jenem Zeitraum von der Auswanderung bis zur Aufhebung der Selbstverwaltung. Am Beginn der Arbeit wird auf frühere Versuche der russischen Regierung, Ausländer ins Land zu holen, verwiesen, und erst danach werden die Manifeste von Katharina der Großen, welche den Weg für die zahlreichen späteren Auswanderer nach Russland ebneten, analysiert. Von besonderem Interesse sind die Ausführungen über die soziale Zusammensetzung und die Herkunftsgebiete der Auswanderer, aber auch auf die staatliche und private Anwerbung der Kolonisten wird dezidiert eingegangen. Des Weiteren werden die die ersten Einrichtungsarbeiten der Kolonisten in ihrer neuen Heimat, die zahlreichen Überfälle der Kirgisen und die Einfälle der Banden des Aufständischen Pugatschjows geschildert. Großes Gewicht wird ebenfalls auf die Darstellung der wirtschaftlichen Lage der Kolonien gelegt, wobei in erster Linie die Lage des Handwerks und der Landwirtschaft behandelt wird. Natürlich dürfen ebenso Kapitel über die Alltagskultur, das sittliche Leben, das Brauchtum und Schulsystem sowie über die archetektonischen Besonderheiten der Kolonistendörfer nicht fehlen.

Leseprobe

Textprobe: Kapitel, Die Sammelplätze und Überfuhr: Eine der wichtigsten Fragen, welche von der russischen Regierung gelöst werden mussten, war jene, welche Orte den Auswanderungswilligen als Sammelplätze dienen sollten und welche Reiseroute wohl die geeignetste sei. Der Landweg über Böhmen, Preußen, Wien und Polen, über welchen im Jahre 1763 vom Berater und Minister der russischen Regierung in Regensburg Smolin einige kleinere Gruppen - hauptsächlich Städter aus süddeutschen Ländern und Österreich - auf die Reise geschickt wurden, erwies sich schon bald als unzweckmäßig. Hierfür sprach vor allem zum einen jene Tatsache, dass aufgrund der langen Reisezeit die Verwendung von Pferdefuhrwerken gegenüber jener von Schiffen um ein Vielfaches teurer kam, und zum anderen der Umstand, dass die zwischenstaatlichen Beziehungen Russlands mit einer Reihe von den in Betreff kommenden Durchzugsländern zumindest als kompliziert bezeichnet werden können, was natürlich die einwandfreie Abwicklung der Transporte jederzeit gefährden konnte (der Preußenkönig und der sächsische Kurfürst z.B. verboten die Durchreise). Außerdem kam noch hinzu, dass für Kolonistenzüge auf dem Landweg mehr Begleitpersonal benötigt wurde, um so eventuellen Fluchtvorhaben und vor allem dem Abwerben durch Vertreter anderer Staaten einen Riegel vorzuschieben (z.B. wurde dies oft von preußischen Werbern versucht). In vielen Städten Deutschlands wurden Werbezentren organisiert, die sich mit der Anwerbung von Ausreisewilligen befassten und diesen auch als Sammelplätze dienten, sie lagen meist in oder in der Nähe größerer Städte. Solche Sammelplätze entstanden in Regensburg, Ulm, Frankfurt am Main, Fürth bei Nürnberg, Friedberg, Lüneburg, Freiburg im Breisgau, Günzburg bei Ulm, Worms, Hamburg, Danzig, Rosslau, Büdingen und noch in einigen anderen Orten. Jedoch existierten sie nicht alle zur selben Zeit, sondern waren auf das Tätigkeitsfeld der Werber ausgerichtet. Als Sammelplatz mit dem vielleicht größten Einzugsgebiet kann Freiburg im Breisgau gelten, da sich hier auch Auswanderer aus Lothringen, Frankreich und dem Elsass einfanden. Von diesen kommt dem anhaltischen Rosslau und dem oberhessischen Büdingen eine besondere Rolle zu. Welche ausschlaggebende Rolle hierbei die letztgenannte Stadt innehatte, lässt sich lediglich aus den Kirchenbucheintragungen des Jahres 1766 erahnen: In der hiesigen Marienkirche wurden auf Veranlassung des Kommissariats zwischen dem 24. Februar und dem 8. Juli an insgesamt 91 Tagen 375 Paare getraut, manchmal bis zu 13 an einem Tag! Auch für Wöhrd bei Nürnberg sind solche Trauungslisten erhalten geblieben. Der Grund lag darin, dass auswandernde Paare in der Regel doch bevorzugt aufgenommen wurden, zumindest erhoffte man sich das. Und laut Dietz wurde das kaiserliche Manifest in den Zeitungen auch mit folgendem Anhang abgedruckt: ‘Es soll allen kund sein, dass Ihre Kaiserliche Allrussische Hoheit die Zarin Kaiserin sowohl Handwerker, als auch Ackerbauern anwirbt, […] zusammen mit dem werden unverheiratete Jungfrauen für die Herausgabe zur Verheiratung angenommen.’ Da die überwiegende Mehrzahl der Paare aus dem gleichen Ort oder aus Nachbardörfern stammte, kann davon ausgegangen werden, dass die Auswanderer im Regelfall doch eher ‘wohl’ überlegt als ‘wild durcheinander’ heirateten. Jedoch soll es auch - wie ein späterer Pastor der Kolonie Norka berichtet - vorgekommen sein, dass noch auf dem Schiff Ehen in größtem Leichtsinn geschlossen worden waren, wobei sich die Eheleute kaum einen Tag vorher kennen gelernt hatten. Auch die Hochzeiten fanden nicht in aller Stille statt, wie Vermerke über Musikantengelder belegen. Angeblich sollen junge ledige Auswanderer und -innen durch öffentliche Aushänge sogar dazu aufgefordert worden sein zu heiraten. An dieser Stelle muss noch darauf hingewiesen werden, dass in den Büdinger Archiven bezüglich der Auswanderungswilligen keine Aufzeichnungen amtlichen Charakters vorhanden sind, obwohl, wie einzelne Hinweise belegen, die Büdinger Regierung mit den Vorgängen durchaus vertraut gewesen sein muss. Für diesen Sachverhalt bieten sich zwei mögliche Erklärungen an: Entweder war man nach den Kriegszeiten im Büdinger Verwaltungsapparat noch nicht zur Normalität zurückgekehrt, oder solche Akten existierten überhaupt nie bzw. gelangten nicht in die Registratur oder in ein Archiv, da sich das ganze Geschehen letztendlich doch in einer nicht umstrittenen Grauzone abspielte. Interessant ist jedoch, dass für den Sammelplatz Feuerbach amtliche Aufzeichnungen in beträchtlichem Umfang vorhanden sind. Übrigens soll aus den Listen auch hervorgehen, dass in ziemlich vielen Ehen der ersten Kolonisten die Männer wesentlich - zum Teil um 10 bis 15 Jahre - jünger waren als die Ehefrauen. Fast alle die Menschen, die sich zur Auswanderung in den verschiedenen Regionen Deutschlands zusammengefunden haben, hatten ein gemeinsames vorläufiges Reiseziel: Lübeck. Berücksichtigt man nämlich, dass allein im Jahr 1766 72 % aller zwischen 1763 und 1772 nach Russland ausgewanderten (und registrierten) 30.623 Kolonisten ihr Vaterland von Lübeck aus verließen, so wird einem die Bedeutung der Stadt als wichtigster Hafen für die Einschiffung nach Russland erst so richtig klar. Dass die Entscheidung für Lübeck gefallen ist, lässt sich sowohl auf die Vorschläge der beiden Diplomaten Smolin und Musin-Puschkin als auch auf folgende rationale Gründe, die hierfür in die Waagschale geworfen werden konnten, zurückführen: 1) die geographische Lage dieser Hafenstadt ist als günstig anzusehen 2) als Hansestadt kam Lübeck eine besonders große Entscheidungsfreiheit zu 3) Lübeck verfügte über althergebrachte und dauerhafte Handelsbeziehungen mit Russland, welche sich mit dem Machtantritt Katharinas noch festigten In diesem Zusammenhang soll auch nicht unerwähnt bleiben, dass das Stadtmagistrat die Zarin achtungsvoll als ‘unsere Kaiserin’ betitelte und auch Graf Raab, einem Stellvertreter von Kaiser Josef II., mitteilte, dass es zwar die Besorgnis des Hofes über die russische Werbetätigkeit und die damit verbundene Unvorteilhaftigkeit für die deutsche Heimat verstehen könne, aber aufgrund der Handelsbeziehungen mit Russland diese nicht behindern könne (jedoch wird man sich sicherlich auch zusätzliche Einnahmen in die Staatskasse erwartet haben). Aus dem Obigen geht hervor, dass man annahm, dass eine Handelsstadt wie Lübeck für die Lösung solcher Aufgaben wie Verpflegung und Unterbringung von Menschenmassen wohl sehr gut geeignet sein wird. Die Unterbringung der sich in Lübeck zusammenfindenden Auswanderer war verhältnismäßig gut geregelt, zumindest noch im Jahr 1764. Damals wurden sie in erster Linie in Wohnungen von Handwerkern und Kaufleuten in der Stadt selbst und in dem benachbarten Städtchen Trawermünde untergebracht. In Privatwohnungen bzw. -häusern fanden zwischen drei und vier Menschen ein Dach über dem Kopf, in Wirtshäusern zwischen dreißig und vierzig und mehr. Im nächsten Jahr war Kommissar Schmidt aber schon gezwungen, zwei größere Schuppen bzw. Magazine innerhalb der Stadt anzumieten. Die Leute mussten hier auf dem Stroh schlafen und sich ihr Essen über dem Lagerfeuer machen, da auch keine öffentliche Ausspeisung für alle organisiert wurde. Aber in der Erwartung eines guten Lebens in Russland fanden sich die Kolonisten mit allem ab. Zu einer kleinen - wenn auch nur vorübergehenden - Milderung der Lage kam es dann, als die Stadtbehörden einige Räumlichkeiten zur Verfügung stellten. Während 1764 von hier aus nur 2542 Menschen die Reise antraten, so waren es im Jahr darauf schon 4162. Das Geschäft schien für Herrn Schmidt, der als Belohnung für jeden von ihm abgefertigten Kolonisten einen halben Taler bekam, immer besser zu gehen. Der Magistrat der Stadt aber machte seinerseits alles, um die Massen nicht in die Stadt lassen zu müssen, da man sich verständlicherweise vor Unruhen, Krankheiten und Nahrungsknappheit fürchtete. Außerdem kam es auch nicht selten dazu, dass die Kolonisten oder ihre Anführer die Ortsbevölkerung schädigten oder sich sonst etwas zu Schulden haben kommen lassen. So wurde eines Nachts gegen Mitternacht der Werber Florentin samt Helfern von einer aufgebrachten Volksmenge mit folgenden Worten empfangen: ‘da kommen sie, die russischen Kanaillen und Schwindler, die müssen alles sterben, wollen wir sie mit den Steinen totwerfen.’ Da die Stadt mit dem Kolonistenwesen aber viel Geld verdienen konnte, hat man solche Vorfälle am nächsten Tag meist auch schon wieder ‘vergessen’. So musste es dann auch unweigerlich dazu kommen, dass der Magistrat am 15. März 1766 Schmidt die Unterbringung von mehr als 800 Menschen in der Stadt verbot. Nach längeren Verhandlungen und einer positiv abgeschlossenen Untersuchung der sanitären Verhältnisse in den Scheunen einigte man sich aber auf den ‘goldenen Durchschnitt’ von 1400 Menschen, Schmidt hatte 2000 gefordert. Alle anderen mussten außerhalb der Stadt auf ihre Abreise warten. Für diese ließ der Senat vor den Stadttoren drei Baracken für je 450 Menschen und weitere mit einem Fassungsvermögen bis zu 1400 Menschen entlang des Weges nach Trawermünde bauen. Der Zustrom an Auswanderern, den der Publizist Schlözer als ‘Laufen und Rennen nach Russland’ bezeichnete , übertraf jedoch schon bald jegliche Erwartungen: Nach verschiedenen Angaben befanden sich zu Anfang Mai 1766 in der Stadt noch zwischen 2221 und 3714 ‘Kolonisten’, und wenn noch jene außerhalb der Stadt untergebrachten mitgerechnet werden, dann kommt man auf bis zu zehntausend. Und trotz dieser beträchtlichen Menschenansammlung kam es in den nächsten zwei Monaten (!) zu keinen Abfertigungen, mit Ausnahme von jenen 1500 Menschen, welche Mitte Mai Lübeck Richtung Russland verließen. War laut Schmidt anfangs noch die stürmische Baltische See schuld, so konnte nach deren Abflauen schon bald nicht mehr darüber hinweggetäuscht werden, dass der wahre Grund für die sich so lange hinziehenden Einschiffungen seine sich nun plötzlich rapid verschlechternde Tuberkulose war. Zwar hat Musin-Puschkin, vielmehr sein Übersetzer, aufgrund Schmidts schwerer Krankheit schon seit dem September des letzten Jahres aktiv nach einem Nachfolger für ihn gesucht und einen solchen in dem Juristen Gabriel Christian Lemke auch gefunden, jedoch verweigerte Schmidt seinen Rücktritt. Mit dessen Tod am 30. Mai löste sich dieses Problem dann von selbst. Inzwischen warteten in der Stadt und in deren Umland bereits ca. zehntausend Menschen auf ihre Einschiffung. Lemke hat natürlich verstanden, dass er alleine mit seinem Erbe nicht fertig werden kann, und deshalb bekam er auch die vier angeforderten Buchhalter vom Kontor bewilligt. Nun musste er schauen, die von Tag zu Tag mehr werdenden Menschen wegzubekommen, da man Anfang Juni für deren Verpflegung schon mehr als 10.000 Mark pro Tag ausgab. Während des Aufenthalts in Lübeck bekamen Männer 16 Kreuzer, Frauen 10 und Kinder 6 pro Tag zu. Daher war er gezwungen, in Hamburg und Amsterdam Kredite aufzunehmen. Wie Plewe andeutet, waren diese am leichtesten von europäischen Kaufmännern zu kriegen. Bereits im Jahr zuvor haben drei englische Kaufmänner und einer aus Hamburg der russischen Regierung unter die Arme gegriffen. Lemke hat die Sache nun aber auch anders als sein Vorgänger organisiert: Während Schmidt das Proviantgeld für eine angenommene 14-tägige Überfahrt bereits einige Tage vor der Abreise den Leuten auszahlen ließ, was natürlich dessen unsachgemäße Verwendung und auch Fluchtgedanken förderte, ließ Lemke von einigen ausgewählten, vertrauenswürdig erscheinenden Personen Lebensmittelvorräte besorgen. Diese gaben sie dann an die Vorsteher weiter, welche sie wiederum an ihre Kolonisten verteilten. Überhaupt schenkte Lemke - anders als Schmidt - der finanziellen Frage eine besondere Bedeutung, weshalb es auch bei ihm diesbezüglich nie zu Problemen mit dem Kontor gekommen ist. Wie es damals angesichts der immer unruhiger werdenden Massen in Lübeck zugegangen sein musste, ließe sich wohl kaum erahnen, wenn uns nicht Züge, der zu dieser Zeit hier ebenfalls auf seine Einschiffung wartete, hiervon eine Beschreibung geliefert hätte. Demnach wirkte die Masse der Liederlichen auf so manch anständigen Menschen anfangs noch, so auch auf ihn, eher anziehend, weil man ‘mit einem male von einer Menge fröhlicher Menschen lautjubelnd bewillkommt wurde’ und des Öfteren auch ‘so manches hübsche Mädchen erblickte, von welchen einige einladende Blicke zu einer näheren Bekanntschaft’ auf einen warfen. Als amüsantes Detail am Rande soll erwähnt sein, dass auch ihm in Lübeck dieses Schicksal widerfuhr, er glücklicherweise jedoch bald darauf aufmerksam gemacht wurde, dass seine ‘Schöne eine ausrangierte, feile Dirne wäre.’ Sie sei mit einem gewissen Maas, der in Hamburg ein ‘öffentliches Haus der niedrigsten Art für lüsterne Bootsknechte’ führte, hierhergekommen, da dieser den Entschluss gefasst hatte - ‘weil seine Mädchen, als verrufen, ausser Cours kamen, und er überdies Gefahr lief, sich in seinem Gewerbe von der Polizey verhindert zu sehen’ - ‘sein Serail nach Rußland zu führen, um zu versuchen, ob es dort eher Liebhaber fände, und ihm selbst ein glücklicheres Schicksal würde als in Teutschland.’ Die oft sechs- bis achtwöchigen Wartezeiten machten vielen vermutlich nicht allzu viel aus, da sie an nichts Mangel litten und die regelmäßig ausbezahlten 8 Schillinge zur täglichen Verpflegung völlig ausreichend waren. Jedoch waren nicht alle heiter und sorgenfrei: ‘Manche saßen trübsinnig und mißmuthig in einem Winkel, entweder ganz in sich verloren oder mit der Aeußerung der widrigen Empfindungen, welche ihnen die faunische Laune der größeren Menge erregte.’ Und umso länger die Wartezeiten dauerten, je mehr Menschen wurden auch mit ihrer gegenwärtigen Lage immer unzufriedener und kamen auf den Gedanken die Flucht zu ergreifen, was nun bereits für die Unglücklichen kaum noch möglich war, da sie ihre Dokumente (z.B. Gesellenbrief) den Kommissären und ihre Sachen den Wirten übergeben hatten. Fiel jedoch auf jemanden der bloße Verdacht, dass er oder sie zu entwischen gedachte, so musste die Person die Zeit bis zur Abreise in einem Wachhaus verbringen. Nachdem einst des Nachts etlichen die Flucht gelungen war, fiel der Verdacht u.a. auch auf den uns schon so vertrauten Züge, welcher von seinem Vorsteher zu Herrn Schmidt geführt wurde: ‘Ich habe erfahren, daß ihr Herrn damit umgeht zu entwischen, was mich von euch um so mehr wundert, weil ihr euch alle ganz freywillig bey mir gemeldet habt, ohne im geringsten überredet zu werden zu einer Reise, die euch nun zu gereuen scheint. Ihr steht bereits in beträchtlichen Vorschüssen, und weil ich für euch haften oder die bereits bezahlte Summe einbüßen muß, werdet ihr es mir nicht verargen, wenn ich zu meiner Sicherstellung die nöthigen Vorkehrungen treffe. Ihr müßt euch folglich gefallen lasen, die kurze Zeit bis zur Abreise in einem Wachhause zuzubringen, wo ihr jedoch keine Noth haben werdet, denn ihr bekommt eure Tagegelder, wie bisher, ausbezahlt, habt auch auf der Wache eure Aufwartung von der ihr euch holen lassen könnt, was ihr wollte.’ Eine Aufgabe, welche nicht ohne weiteres zu lösen war, war die Zurverfügungstellung der nötigen Transportmittel. Bereits im März 1766 wurde Schmidt von Smolin beauftragt, fünfzig bis siebzig Schiffe zu pachten, jedoch gelang es ihm nur zwanzig aufzutreiben. Im Folgenden verließ sich die russische Regierung auch nicht auf die Möglichkeit von deutschen Staaten oder Städten Schiffe anzuwerben, da hierzulande die Auswanderung ja ohnehin nur ungern gesehen wurde, sondern wandte sich an England. Dank der Unterstützung von Graf Woronzow gelang es ihr zwei riesige englische Fregatten zu mieten, welche in der zweiten Juni- und ersten Augusthälfte in zwei Fahrten 4082 Menschen, also fast ein Fünftel all jener, welche in Lübeck auf ihre Ausreise warteten, beförderten. Aber auch die eigenen Schiffe trugen ihren Anteil am Kolonisationswerk bei. Von ihnen wurden so genannte Barketten und Pinken mit einem Fassungsvermögen von 70-80 bzw. 280-290 Menschen eingesetzt. Auf ihnen erreichten im Sommer 1766 3076 Kolonisten Oranienbaum. Erwähnenswert erscheint mir noch, dass die Schiffe von Lübeck aus in der Regel immer gruppenweise ablegten, was natürlich der allgemeinen Sicherheit zur See nur dienlich sein konnte. So kamen z.B. am 18. Juni in Oranienbaum vier Lübecker Schiffe und im August zwei ‘Flottenverbände’ von insgesamt 17 Schiffen an. Die größte Zahl von Kolonisten (7645 Menschen) wurde jedoch zwischen dem 12. und 19. September desselben Jahres nach Russland geliefert, das letzte Schiff, die Barkette ‘Elefant’, erreichte Oranienbaum am 30. September. Somit verließen allein in diesem Jahr über Lübeck 21 965 Menschen (ca. 72%!) ihre Heimat in Richtung Russland. Wie schon angesprochen wurde, kamen aber nicht alle an die Wolga. In den Kolonien rund um St. Petersburg wurden 416 Menschen angesiedelt, weitere 329 Personen in zwei Kolonien in Livland und 283 bei Jamburg. In dieser Zeit wurden auch die ersten Kolonisten nach Kleinrussland geschickt. Insgesamt 1436 Menschen wurden so in den verschiedenen Gegenden Kleinrusslands angesiedelt. 337 Personen blieben als Handwerker in St. Petersburg, Moskau, Reval und Tambov.

weitere Bücher zum Thema

Akademisierung in der Pflege. Aktueller Stand und Zukunftsperspektiven

Unveränderte Neuausgabe

ISBN: 978-3-95935-596-4
EUR 49,90

Ansiedlungen in den Urwäldern von Kanada

Ratschläge einer Emigrantin zu Beginn des 19. Jahrhunderts

ISBN: 978-3-96345-343-4
EUR 34,00

Ansiedlungen in den Urwäldern von Kanada

Ratschläge einer Emigrantin zu Beginn des 19. Jahrhunderts

ISBN: 978-3-96345-342-7
EUR 42,00

Die in die Fremde zogen

Auswanderer-Schicksale des 19. und 20. Jahrhunderts erzählt nach Briefen und Tagebüchern

ISBN: 978-3-96345-335-9
EUR 30,00

Die in die Fremde zogen

Auswanderer-Schicksale des 19. und 20. Jahrhunderts erzählt nach Briefen und Tagebüchern

ISBN: 978-3-96345-334-2
EUR 38,00


Bewerten und kommentieren

Bitte füllen Sie alle mit * gekennzeichenten Felder aus.