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Gesellschaft / Kultur


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Produktart: Buch
Verlag:
disserta Verlag
Imprint der Bedey & Thoms Media GmbH
Hermannstal 119 k, D-22119 Hamburg
E-Mail: info@diplomica.de
Erscheinungsdatum: 07.2014
AuflagenNr.: 1
Seiten: 172
Sprache: Deutsch
Einband: Paperback

Inhalt

Behinderte und psychisch kranke Menschen gehören zu den sozio-kulturell unterprivilegierten und benachteiligten Personengruppen in gesellschaftlich randständiger und damit marginaler Position. Aufgrund ihrer behinderungs- oder krankheitsbedingten Merkmale erfüllen sie die Normalitätserwartungen nicht und widersprechen somit den allgemeinen Vorstellungen von Normalität und werden deshalb von sozialen Interaktionen mehr oder weniger ausgeschlossen. Ihre Missachtung beruht dabei auf einem Negativurteil hinsichtlich ihres gesellschaftlichen Wertes, sodass ihr Leben vielfach durch Diskriminierungen und Stigmatisierungen gekennzeichnet ist. In diesem Kontext weist das Buch auf teilweise erschreckende soziale Ausgliederungsprozesse hin, denen die Betroffenen oftmals hilflos ausgesetzt sind. Wer dauernd an Grenzen in sozialen Beziehungen und Begegnungen stößt, merkt, dass er Unwohlsein bei anderen verursacht und erlebt schließlich, wie sich von ihm distanziert wird. Die Betroffenen müssen demzufolge nicht nur biographische Arbeit bezüglich der Auseinandersetzung und Bewältigung ihrer Behinderung bzw. psychischen Erkrankung, sondern in besonderer Weise auch hinsichtlich den damit verbundenen Reaktionen vonseiten der sozialen Umwelt leisten, die unweigerlich biographische Konsequenzen nach sich zieht. Somit verletzen Stigmatisierungs- und soziale Ausgliederungsprozesse das normative Selbstverständnis und die psychische Integrität der Betroffenen. Es soll verdeutlicht werden, auf welcher Grundlage Stigmatisierungen zustande kommen und wie Menschen mit Behinderungen und psychischen Krankheiten sowie ihre Familien diese bewältigen und erleben. Denn das Leiden unter den gesellschaftlichen Ausgrenzungsmechanismen ist oftmals größer als unter den eigentlichen behinderungs- oder krankheitsbedingten geistigen, physischen oder psychischen Funktionsbeeinträchtigungen.

Leseprobe

Textprobe: Kapitel 3.3.3, Die Rolle von Professionellen bei der Stigmatisierung behinderter Menschen: Generell sind professionelle Helfer Berufsträger, die das Leben behinderter (und psychisch kranker) Menschen in signifikanter Weise prägen bzw. beeinflussen. Im Allgemeinen lassen sich überdurchschnittlich häufige berufliche Kontakte mit Behinderten in medizinische, pädagogische und soziale Bereiche gliedern. Grundsätzlich ist dabei auf das Machtgefälle, das sich in einer asymmetrischen Beziehung zwischen Professionellen und ihren Klienten zueinander äußert, hinzuweisen. Es resultiert aus der spezifischen und hierarchischen Struktur des Beratungsverhältnisses, welches durch die Fachautorität des professionellen Helfers als Ratgeber und durch die Autoritätsabhängigkeit des Klienten als Ratempfangender gekennzeichnet ist. Diese Expertenmacht, die sich in den Informations- und instrumentellen Handlungsmöglichkeiten der Professionellen äußert, ergibt sich aus der unterschiedlichen Verfügung über Wissen, sodass sie demzufolge aufgrund ihrer Wissensüberlegenheit und Spezialisierung unhinterfragt als Experten für Behinderungen und Krankheiten anerkannt sind. So wird die konkrete Gesprächssituation beispielsweise mit Hilfe von Wartezeiten sowie durch die Gestaltung, den Zeitpunkt und die Dauer kontrolliert (Steuerungsmacht). Des Weiteren bedingen die unterschiedlichen sozialen Rollen einerseits die gesellschaftliche Definitionsmacht des Arztes (Diagnosestellung, Krankschreibung, Recht zur Behandlung, usw.) und andererseits die Krankenrolle des Hilfesuchenden, der ärztlichen Anweisungen Folge zu leisten hat (vgl. Lambeck 1992, S. 64 f.). Personen, die berufsbedingt mit Behinderten in Kontakt treten, können trotz des entsprechenden kompetenten Wissensstandes dennoch über eine negative Grundhaltung in Bezug auf Menschen mit Behinderungen verfügen: Die überwiegende Mehrheit der vielen professionellen Helfer, mit denen ich bisher in meinem Leben zu tun hatte, vermittelte mir, daß ich ein defizitäres Wesen bin und selbst nicht weiß, was gut für mich ist (Gottschalk, S. 102). So entwickeln Professionelle mitunter spezifische Abwehrmechanismen, um damit Grenzen zum Behinderten (oder psychisch Kranken) als Andersartigen abzusichern, die sich u. U. in einem erniedrigendem und entwürdigendem Verhalten zeigen können: Als ich etwa acht Jahre alt war, lag ich einmal nackt in einer Wanne in der hydrotherapeutischen Abteilung des Krankenhauses und bekam Unterwassermassage. Nachdem die beendet war, holte die Krankengymnastin, die mich behandelt hatte, eine Praktikantin und führte mich ihr vor. Sie forderte mich auf, meine Beine zu bewegen, als wüßte sie nicht, daß ich das nicht kann. Ich spürte einmal mehr meine Unzulänglichkeit, doch dann kam etwas Neues. Sie forderte das junge Mädchen auf, meine Oberschenkel genau zu betrachten und zu sagen, was daran auffällig wäre. Als es unsicher schwieg, sagte sie: ‘Ja, sehen Sie denn nicht, daß ihre Oberschenkel zu kurz sind. Merken Sie sich, das ist typisch für Polio, daß die befallenen Extremitäten im Wachstum zurückbleiben’ (Gottschalk, S. 108). Nach Cloerkes (2001) scheinen professionelle Helfer im sozialen Bereich (z. B. Rehabilitationsberater, Betreuer in Werkstätten für Behinderte) über positivere Einstellungen zu verfügen, als solche im (sonder-) pädagogischen Bereich (Cloerkes 2001, S. 117). Insbesondere lassen Einstellungen von medizinischem Klinikpersonal generell sehr negative Grundhaltungen erkennen, da i. d. R. aufgrund der defektorientierten medizinischen Sichtweise keine individuellen Entfaltungsmöglichkeiten des Behinderten (bzw. psychisch Kranken), sondern der Fokus ausschließlich auf behinderungs- oder krankheitsspezifische Defizite gelegt wird. Dabei besteht eine besondere Diskrepanz zwischen dem sehr hohen Fachwissen der Mediziner und ihrer teilweise starken Ablehnung behinderter Menschen (Cloerkes 2001, S. 116). Diese Haltung setzt sich in der Klinik, u. a. durch Diagnoseschemata, Zeitpläne, besondere Kleidung, Wechselschichten und den damit verbundenen unpersönlichen Kontakten sowie dem Delegieren von Verantwortung, fort (vgl. Zaviršek, S. 57). Die negativen Einstellungen von Ärzten entstehen insofern, da sie sozialisationsbedingt dieselben stereotypen Vorstellungen über behinderte Menschen erworben haben wie Laien. Des Weiteren werden diese Überzeugungen durch die spezifische Ausbildung noch zusätzlich verstärkt, da bei Behinderungen die an Heilung orientierten und ausgerichteten Handlungsmuster (z. B. in Form von Therapien) nicht genügend anwendbar sind (Lambeck 1992, S. 72). Wenn Therapien und diagnostische Verfahren als instrumentelle Mittel zur Wiederherstellung von gewünschten Normalfunktionen dienen, besteht für Menschen mit Behinderungen, bei denen diese Handlungsmöglichkeiten nicht wirken, jedoch die Gefahr, unter den heutigen vorherrschenden Gesundheitsstandards als unerwünscht und damit unzumutbar zu gelten. Das nächste Teilkapitel behandelt daher hinsichtlich des Lebensrechtes und Lebenswertes behinderter Menschen heutige gesellschaftliche Segregationstendenzen unter verschiedenen Aspekten. 3.4, Über den heutigen Wert behinderten Lebens: 3.4.1, Die präferenz - utilitaristische Ideologie der Ausgrenzung: Der Lebenswert und das Lebensrecht von Menschen mit (geistigen) Behinderungen gelten seit jeher als umstritten wie bereits weiter oben dargelegt, da sie häufig auf lebenslange und anspruchsvolle Hilfe angewiesen sind und in ihrem Leben daher oftmals weder Nutzen noch Sinn gesehen wird. Peter Radtke, der von Osteogenesis (Glasknochenkrankheit) betroffene Schauspieler versteht den Lebenswert eines behinderten Menschen wie folgt: Sinnvoll ist das Leben, das gemeistert wird, genauso wie Leben, das nicht gemeistert wird. Es gibt kein sinnloses Dasein (Weigand 2003, S. 11). Das Grundrecht, welches in unserem Grundgesetz die Unantastbarkeit der Würde jedes Menschen postuliert, muss hingegen unter den heutigen gesellschaftlichen Bedingungen verstärkt verteidigt werden. Schließlich hat uns die deutsche Vergangenheit ausdrucksvoll gezeigt, dass die menschliche Würde sehr wohl durch Missachtung, Demütigung, Gewalt, Ausstoßung und Vernichtung antastbar ist. Damit stellt die Klausel des Grundgesetztes lediglich einen ausdrücklichen Hinweis dar, das Prinzip der gleichen Achtung nicht vor behinderten Menschen enden zu lassen. Nach dem Ende des Dritten Reiches wurde hingegen mit dem Erscheinen des Werkes Praktische Ethik (1984) des australischen Moralphilosophen Peter Singer das Lebensrecht behinderter Menschen verstärkt zur Diskussion gestellt. Im Folgenden werden daher einige seiner zentralen Aussagen dargelegt. Im Kontrast zum klassischen Utilitarismus nach Bentham und Mill, nach der eine Handlung für richtig beurteilt wird, wenn sie - nach dem Prinzip des größtmöglichen Glücks der größtmöglichen Zahl (the greatest happiness of the greatest number) - Lust vermehrt und Unlust verringert, steht für Singers Präferenz - Utilitarismus das Prinzip der gleichen Erwägung von Interessen im Vordergrund. Auf der Basis des tierethischen Ansatzes nach Bentham stellen für ihn die Fähigkeiten zu leiden bzw. sich zu freuen die beiden Grundvoraussetzungen für die Herausbildung von Interessen dar, aufgrund dessen der Wert eines Individuums erst zu achten ist. Ferner leitet er von dem Begriff Mensch zwei unterschiedliche Bedeutungen ab: Dabei differenziert er ein Mitglied der Gattung homo sapiens willkürlich von der von John Locke übernommenen Bezeichnung Person als rationales und selbstbewusstes Wesen (vgl. Forster 2002, S. 86). Anhand der weiteren Unterscheidung zwischen dem Selbstbewusstsein und dem Bewusstsein beurteilt Singer den Lebenswert von Wesen, die zwar bewusst Lust und Schmerzen empfinden können, jedoch, da sie nicht selbstbewusst und vernunftbegabt sind, nicht als Personen betrachtet werden, sondern lediglich als Behälter für Lust und Schmerz, die kein eigenes Leben führen können (Forster 2002, S. 92). Damit stellt er insbesondere den Status einer Persönlichkeit bei geistig behinderten Menschen in Frage. So kommt Singer schließlich zu dem Resultat, dass höher entwickelte, selbstbewusste und mit Rationalität ausgestattete Lebewesen denjenigen auf einer niedrigeren Bewusstseinsstufe vorzuziehen seien und dass das Leben eines Wesens, welches über keine bewussten Erlebnisse verfügt, keinen Wert an sich besitzt bzw. völlig leer ist (vgl. Forster 2002, S. 90). So stellen geistig behinderte Menschen für ihn lediglich Wesen an der Grenze des Menschseins dar (Singer 1984, zit. nach Mattner 2000, S. 140), so dass für ihn beispielsweise die Tötung eines Schimpansen schlimmer ist als die Tötung eines schwer geistesgestörten [behinderten] Menschen, der keine Person ist (Singer 1984, zit. nach Forster 2002, S. 92) [Anmerkung d. Verf.].

Über den Autor

Annika Schmidt wurde 1982 in Aschersleben geboren. Ihr Studium der Soziologie und Pädagogik an der Otto - von - Guericke - Universität Magdeburg schloss die Autorin im Jahr 2005 mit dem akademischen Grad der Magistra Artium erfolgreich ab. Im Jahr 2009 folgte der Master of Arts für Erwachsenenbildung - ebenfalls an der Otto - von - Guericke - Universität Magdeburg. Seit 2005 ist die Autorin erfolgreich in der Bildungsbranche tätig.

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