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- Die Bedeutung Sozialer Arbeit für Menschen mit Demenz: Personsein trotz einer Demenzerkrankung
Gesellschaft / Kultur
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Verlag:
disserta Verlag
Imprint der Bedey & Thoms Media GmbH
Hermannstal 119 k, D-22119 Hamburg
E-Mail: info@diplomica.de
Erscheinungsdatum: 03.2013
AuflagenNr.: 1
Seiten: 168
Abb.: 46
Sprache: Deutsch
Einband: Paperback
Wenn ich nicht länger eine Person bin, warum fühle und leide ich dann wie jede andere Person? Viele Menschen mit Demenz mögen sich diese Frage stellen. Sie wollen als vollwertige Bürger einer Gesellschaft mitsamt ihrer Menschenrechte und als schöpferische Wesen wahrgenommen werden. Doch was bleibt, wenn wir unsere bewusste Erinnerung verlieren? Es bleibt das unbewusste Gedächtnis. Es bleibt die Sehnsucht nach Nähe und Geborgenheit. Es bleibt eine lebenslange Entwicklung der Persönlichkeit. Menschen mit Demenz sollten in ihrer Ganzheit wahrgenommen, getragen, gefördert und nicht zum Gefangenen des eigenen Körpers degradiert werden. Wir können ihnen den Weg weisen, sie auf die Welt aufmerksam machen und sie in die Gemeinschaft einbinden. Durch professionelles emphatisches Beobachten (Dementia Care Mapping) ist es möglich, jenen Menschen eine Stimme zu verleihen, die ihre Bedürfnisse nicht länger eigenständig kommunizieren können. Dadurch können sowohl präventive therapeutische Interventionen, als auch qualitätssichernde Maßnahmen eingeleitet werden, die ein menschenwürdiges, wertvolles Dasein gewährleisten. Dieses Buch richtet sich an Therapeuten, Sozialarbeiter und Pflegekräfte.
Textprobe: Kapitel 6.2.3, Personale Detraktionen: Innerhalb des medizinischen Modells von Demenz wird die Erkrankung als ein degeneratives Hirnleiden, mit daraus resultierenden Symptomen, beschrieben. Kitwood zeigt hingegen, dass solche Degenerationen auch maßgeblich durch äußere Faktoren beeinflusst werden können, beispielsweise durch andauerndes soziales Unbeteiligtsein (engl. disengagement). Im Dementia Care Mapping werden solche und ähnliche Ereignisse der malignen bösartigen Sozialpsychologie, in Form von 17 verschiedenen personalen Detraktionen (PD) aufgezeichnet. Diese können in einer individuellen oder gruppenbezogenen Datenanalyse tabellarisch und grafisch dargestellt werden. Anhand der qualitativen Notizen ist auch im Anschluss der Beobachtung nachvollziehbar, was in einer Situation genau geschehen ist und welche Personen daran beteiligt waren. Wie gesehen, benennt Kitwood in seinen Ausführungen zum person-zentrierten Ansatz fünf psychische Grundbedürfnisse (Trost, Identität, Bindung, Betätigung und Einbeziehung), die im zentralen Bedürfnis Liebe gründen. Im DCM werden die personalen Detraktionen diesen fünf Grundbedürfnissen zugeordnet, da sie deren jeweilige Befriedigung verhindern und damit das Personsein schädigen. Demzufolge werden grundsätzlich die meisten PDs in Situationen verzeichnet, in denen Menschen mit Demenz etwas vom Pflegepersonal wollen, fordern oder brauchen, und Pflegepersonen diese Unterstützungsleistung (auch in guter Absicht) unterlassen. Im Folgenden werden die 17 Formen der PDs den unterschiedlichen Grundbedürfnissen zugeordnet und kurz beschrieben. Das Grundbedürfnis nach Geborgenheit und Wohlbehagen (Trost) wird durch die PDs Einschüchtern (PD1), Vorenthalten (PD2) und Überholen (PD3) beeinträchtigt. Einschüchtern bedeutet in diesem Zusammenhang, Personen durch verbale Drohungen oder physische Gewalt zu verängstigen. Typisch dafür sind bestimmte ‘wenn - dann’ Formulierungen, beispielsweise: Wenn ihr Mann erfährt, dass sie nichts gegessen haben, dann wird er sicher böse. Das Vorenthalten beschreibt Ereignisse, bei denen erbetene Aufmerksamkeit oder geäußerte Bedürfnisse nach Kontakt verweigert oder ignorieret werden. Die PD Überholen bezieht sich auf ein zu schnelles Tempo in verschiedenen Zusammenhängen, beispielsweise beim Präsentieren von Informationen und Wahlmöglichkeiten. Ebenso kann ein zu schnelles Vorbeigehen (Überholen) an Menschen mit Demenz eine Kontaktaufnahme dieser unabwendbar verhindern, da sie sich vermutlich nicht schnell genug bemerkbar machen können. Das Grundbedürfnis nach Identität wird durch die PDs Infantilisieren (PD4), Etikettieren (PD5) und Herabwürdigen (PD6) untergraben. Erwachsene Personen zu Infantilisieren bedeutet, sie herablassend, degradierend oder bevormundend zu behandeln. Beispielsweise wenn Pflegepersonen Menschen mit Demenz, entsprechend dem Status eines Kindes, dafür ausschimpfen, beim Essen den Tisch verunreinigt zu haben. Personen zu Etikettieren bedeutet hingegen, ein Etikett (z.B. Vergesslichkeit/ Demenz) als wesentliches (Persönlichkeits-) Merkmal dieser Person anzusehen. Dies entspricht beispielsweise der Einstellung mancher Pflegepersonen, Menschen mit Demenz vergessen - so oder so - das momentan Geschehene oder Gesagte. Eine Person herabzuwürdigen bedeutet, dieser auf irgendeine Weise zu vermitteln, sie sei unfähig, unzulänglich, wertlos oder nutzlos. Die Erfüllung des Grundbedürfnisses nach Bindung wird durch die PDs Anklagen (PD7), Betrug (PD8) und Entwerten (PD9) verhindert. Eine Person anzuklagen bedeutet sie wegen etwas, das sie getan oder nicht getan hat, zu beschuldigen und/ oder dem Verhalten eine böse Absicht zu unterstellen. Beispielsweise wenn Pflegepersonen Menschen mit Demenz unterstellen, sie hätten den Tisch beim Essen mit Absicht verunreinigt, nur um dem Pflegepersonal mehr Arbeit zu hinterlassen. Personen zu betrügen bedeutet hingegen, sie zu täuschen, zu manipulieren oder zu belügen, um sie vom einem Geschehen abzulenken oder damit sie etwas Bestimmtes tun. Dabei dominieren die Bedürfnisse des Pflegesettings und der Pflegepersonen. Jemanden zu entwerten bedeutet unterdessen, die unmittelbare Wirklichkeit einer Person nicht anzuerkennen (Invalidation). Das Grundbedürfnis nach Betätigung wird durch die PDs zur Machtlosigkeit verurteilen (PD10), Zwang (PD11), Unterbrechen (PD12) und zum Objekt erklären (PD13) untergraben. Eine Person zur Machtlosigkeit zu verurteilen bedeutet, ihr es nicht zu ermöglichen oder zu erlauben, vorhandene Fähigkeiten zu nutzen, oder aufgrund von mangelhaftem Tempo und Effizienz, die Handlungen zu übernehmen. Personen zu etwas zu zwingen geschieht gegen die Anliegen und Wünsche von Betroffenen. Beispielsweise wenn Pflegepersonen versuchen, Menschen mit Demenz zu überreden an einer Gruppenaktivität teilzunehmen, oder sie einfach dahin überführen, obwohl die Person zuvor geäußert hat, nicht an der Gruppenaktivität teilhaben zu wollen. Die PD Unterbrechen bedeutet, den Bezugsrahmen einer Person zu stören oder in einer Weise in eine Beschäftigung der Person einzugreifen, die für die Person schädlich ist. Beispielsweise wenn Pflegepersonen in Tätigkeiten von Menschen mit Demenz keinen erkennbaren Wert sehen und diese grob stören oder plötzlich beenden, obwohl es sich für Betroffene mitunter um eine ernst zu nehmende Arbeit handelte. In ähnlicher Weise bedeutet eine Person zum Objekt zu erklären, sie so zu behandeln, als sei sie ein lebloser Gegenstand, beispielsweise Personen im Rollstuhl, ohne die Handlung zu benennen, einfach hin und her zu bewegen. Die Befriedigung des Grundbedürfnisses nach Einbeziehung wird durch die PDs Stigmatisieren (PD14), Ignorieren (PD15), Verbannen (PD16) und Lästern (PD17) verringert. Personen zu stigmatisieren bedeutet, sie aufgrund von Fähigkeiten oder Behinderungen, Handlungen oder Aussagen, als unakzeptable und verachtenswerte Wesen zu beurteilen. Dies kommt beispielsweise dadurch zum Ausdruck, dass Pflegepersonen sich vor dem Geschirr ekeln, das von den Menschen mit Demenz verwendet wird. Personen zu ignorieren bedeutet hingegen, die Anwesenheit dieser nicht anzuerkennen, etwa über sie zu sprechen, als seien sie nicht präsent. Personen zu verbannen bedeutet hingegen, deren Handlungen und Aussagen nicht anzuerkennen, sie wegzuschicken, oder sie psychisch oder physisch auszuschließen. Die PD Lästern umfasst, sich über Personen lustig zu machen, sie vorzuführen oder zu erniedrigen. Dabei werden die Empfindungen von Betroffenen oftmals völlig missachtet.
Die Diplompädagogin Anita Helm wurde 1983 in Dresden geboren. Durch die Leidensgeschichte ihrer Großmutter beschäftigte sie sich bereits während ihres Studiums an den Universitäten Wien und Frankfurt am Main mit den wissenschaftlichen Hintergründen der Demenzerkrankung. Dabei interessierte sie sich vornehmlich für die Sichtweise und das Empfinden von Menschen mit Demenz. Im Rahmen einer Weiterbildung an der Universität Witten/Herdecke erwarb sie die notwendigen Grundlagen für ein professionelles, emphatisches Beobachten von Menschen mit Demenz (Dementia Care Mapping). Von 2009 bis 2013 sammelte sie zudem wertvolle praktische Erfahrungen als Betreuerin in einem Alzheimer Tageszentrum. Ihre Motivation ist ihr Wunsch, Menschen mit Demenz eine Stimme zu verleihen.