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- Auffällige Religiosität: Gebetsheilungen, Besessenheitsfälle und schwärmerische Sekten in katholischen und reformierten Gegenden der Schweiz
Gesellschaft / Kultur
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Verlag:
disserta Verlag
Imprint der Bedey & Thoms Media GmbH
Hermannstal 119 k, D-22119 Hamburg
E-Mail: info@diplomica.de
Erscheinungsdatum: 07.2012
AuflagenNr.: 1
Seiten: 388
Sprache: Deutsch
Einband: Paperback
Das vorliegende Buch beschäftigt sich mit Seherinnen und Sektierern, Neutäufern und Neugläubigen, mit Gebetsheilern und vom Teufel besessenen Frauen in katholischen und reformierten Gegenden der Zentral- und Ostschweiz. Für diese, den üblichen Rahmen sprengende Religiosität wurde der Begriff der auffälligen Religiosität eingeführt. Das 19. Jahrhundert vollzog inhaltlich aufgrund der Industrialisierung und Modernisierung, Demokratisierung und Nationalisierung sowie der Säkularisierung einen Umbruch gegenüber der Tradition. Die untersuchten auffällig religiösen Phänomene waren sicher nicht Ausdruck einer alltäglichen Religiosität einer breiten Bevölkerungsschicht. Doch existierten vermeintlich vormoderne magisch-religiöse Weltsichten neben den modernen aufgeklärt-zweckrationalen weiter. Obwohl Entkirchlichungsprozesse zu Beginn des 19. Jahrhunderts unbestreitbar stattfanden, sind sie nicht mit einem Nachlassen der individuellen Religiosität gleichzusetzen. Die Untersuchung gibt einen Einblick in die religiöse Praxis gesellschaftlicher Randgruppen, in denen Frauen eine große Präsenz hatten. Bemerkenswert ist, dass sich Gemeinsamkeiten in den religiösen Grundbedürfnissen auffällig religiöser Personen katholischer wie reformierter Konfession finden lassen. Beispielsweise stellt die persönliche Frömmigkeit einen solchen Aspekt dar. Dieses Bedürfnis konnten auffällig religiöse Personen dadurch stillen, dass sie sich dem neu konstituierenden Ultramontanismus zuwandten oder einem evangelikalen Erweckungswerk anschlossen. Der Glaube, dass der Teufel die Ursache für körperliche oder seelische Krankheiten ist, also direkt ins diesseitige Leben eingreift, bildet einen weiteren Aspekt. Dieser Glaube gründet noch stark auf das barocke Weltbild und ist auch dem buchstäblichen Bibelverständnis der Erweckungsbewegung nicht fremd.
Textprobe: Kapitel 4.4.1, Die ‚Herz-Jesu’-Anhängerschaft: Elisabetha Hanimann erzählte im Verhör, dass sie ‚am heiligen Freytag auf unser St. Gerold gewahlfahrtet, und da eine erbauliche Kapelle angetroffen, welche mich sehr gerühret hat’. Auch andere ‚Herz-Jesu’-Anhängerinnen und -Anhänger bezeichneten ihre Gänge nach St. Gerold als ‚Wallfahrten’. Wallfahrten sind definitionsgemäss religiös motivierte Reisen zu einer heiligen Stätte. Doch St. Gerold scheint kein traditioneller Wallfahrtsort gewesen zu sein. Elisabetha Hanimann war die einzige der verhörten Personen, die eine Aussage zu den - zu Gebet und Besinnung einladenden - Gebäulichkeiten am Ort machte. Denn eigentliches Ziel der ‚Herz-Jesu’-Anhängerschaft war nicht eine Gnadenstätte, sondern ein bestimmter Pfarrer: Sie holte sich also nicht Trost von einem Gnadenbild, sondern nahmen den weiten Weg für die Belehrungen von Philipp Borsinger auf sich. Die ‚Wallfahrten’ der ‚Herz-Jesu’-Leute waren private Unternehmungen, die nicht mit den kirchlich organisierten kollektiven Wallfahrten gleichzusetzen sind, die im 16./17. Jahrhundert im Zuge der Konfessionalisierungspolitik eine Blütezeit erlebten, aber später durch die katholische Aufklärung in Ungnade fielen. Dem Konstanzer Generalvikar von Wessenberg waren diese traditionellen Wallfahrten einerseits in ihrer Frömmigkeitsform zu oberflächlich, andererseits sah er die öffentliche Ordnung bedroht. Deshalb versuchte er das Wallfahrts- und Prozessionswesen mittels Verboten zeitlich und räumlich stark einzuschränken. Informelle Wallfahrten wie diejenigen der ‚Herz-Jesu’-Anhängerschaft waren von diesem Verbot nicht betroffen. Diese ‚Wallfahrten’ sind viel eher im Sinne von Pilgerfahrten zu verstehen, bei denen der Wunsch nach Heilung von Krankheit im Vordergrund steht. Die Verwendung des Begriffs ‚Wallfahrt’ war aber deswegen naheliegend, weil hier meistens grössere Gruppen (bis zu zwanzig Personen) unterwegs waren und der Zielort oftmals eine religiöse Stätte bildete, die ebenfalls von traditionellen Wallfahrenden besucht wurde. So reisten Eheleute, Geschwister und Nachbarsleute beiderlei Geschlechts aus den Dörfern in der Region der Stadt St. Gallen jeweils gemeinsam zur Propstei St. Gerold im Vorarlbergischen, die zum Besitz des Klosters Einsiedeln gehörte, nach Einsiedeln selber, auf die Rigi, nach Sachseln, zu Pfarrer Josef Alfons Vinzenz Imhof (1725 - 1798) nach Sisikon und zu Pfarrer Anton Figel nach Aulendorf in Oberschwaben. Wie die Gestaltung dieser jeweils mehrtägigen Fussreisen aussah oder ob allenfalls gemeinsames Beten und Singen während des Gehens dazugehörte, ist nicht bekannt. Wallfahren oder Pilgern war indes nicht billig. Die Geschwister Anderau hatten eine gemeinsame Reisekasse und übernahmen manchmal für ärmere Leute die Reisekosten. Anlass für die Reise nach St. Gerold war für Johannes Mäder von Mörschwil die Nachricht, dass der Pfarrer von St. Gerold, Philipp Borsinger, Exorzismen vornehme und ‚Unterricht von der christl[ichen]. Vollkommenheit’ erteile. Ihm war bekannt, dass die Schwestern Anna Maria und Anna Barbara Anderau von Gossau vor den Franzosen nach St. Gerold geflohen waren. Durch Anna Maria Anderau, die sich besessen glaubte, war Johannes Mäder überhaupt zum Glauben gekommen. Um das Jahr 1796 hatte er an einer ‚Wallfahrt’ nach Sisikon UR teilgenommen, wo er einen Exorzismus an Anna Maria Anderau durch den Sisiker Pfarrer Imhof miterlebte. In der Folge davon ging Johannes Mäder sehr häufig nach St. Gerold. Im Verhör vom 14. Juni 1802 erzählte er, dass er seit Februar erneut sechs Mal in St. Gerold gewesen sei, wobei er jeweils für eineinhalb Tage dort blieb. Die meisten der über fünfzig ‚Herz-Jesu’-Anhängerinnen und -Anhänger berichteten, dass sie selber mindestens einmal nach St. Gerold gepilgert waren. Da die Tätigkeiten der ‚Herz-Jesu’-Leute von einigen Dorfpfarrern in ihren jeweiligen Gemeinden nicht gerne gesehen wurden, tarnten manche ihre Reise nach St.Gerold als Wallfahrt ins nahe gelegene Rankweil im Vorarlbergischen, das mit seiner Wallfahrtskirche ‚Unserer Lieben Frauen Mariä Heimsuchung’ u.a. auch bei Schweizer Pilgern eine beliebte Wallfahrtsstätte bildete. Nach St. Gerold ‚wallfahrteten’ die ‚Herz-Jesu’-Anhängerinnen und -Anhänger indes, um den besonderen Religionsunterricht von Philipp Borsinger zu besuchen. Denn zu Hause beim eigenen Dorfpfarrer kamen sie nicht in Genuss eines solchen Unterrichts, wie dies bei Borsinger der Fall war, der sie folgendermassen belehrte: ‚Vom Menschen feind, wenn diser einem verleiten wolle, was für Mittel man dagegen anwenden müsse’. Die Lehre Borsingers zum Wirken der Teufel und Dämonen in der Welt, deren Auswirkungen auf Leib und Seele sowie die Kampfmittel gegen dieses Wirken schienen im Leben seiner Schülerinnen und Schüler eine grosse Bereicherung gewesen zu sein. Borsinger betreute in diesem Zusammenhang u.a. auch Frauen seelsorgerisch, die sich vom Teufel besessen glaubten. Generell stellte der Glaube an die Teufelsbesessenheit ein wichtiger Grund für ‚Wallfahrten’ zu Orten dar, wo Pfarrer tätig waren, die sich dieses Übels annahmen und u.a. gewisse exorzistische Tätigkeiten ausübten. Denn religiöse Menschen, die nach solchen Praktiken verlangten, stiessen bei ihren Ortspfarrern meistens auf Ablehnung, so dass sie bei ‚fremden’ Geistlichen um Hilfe nachsuchen mussten. Aber auch zwischenmenschliche Probleme liessen sich bekämpfen. Beispielsweise reisten Johannes Zink und seine Frau Anna Magdalena Bischöfin, die Nachbarn von Johannes Mäder, nach St. Gerold, um ihre Ehe in Ordnung zu bringen. Sie hatten ‚Zwistigkeiten’ untereinander gehabt, doch seit ihrer Rückkehr von St. Gerold lebten sie nun ‚in Friede und Liebe miteinander’.
Jolanda Cécile Schärli, Dr. phil., geboren 1968, wuchs im Kanton Luzern (Schweiz) auf. Ihr Studium der Allgemeinen Geschichte an der Universität Zürich schloss sie im Jahre 2002, das Doktorat an der Universität Luzern im Jahre 2012 ab. Sechs Jahre lang arbeitete sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Luzern. Seit einigen Jahren lebt sie mit ihrer Familie in St. Gallen, wo sie sich als Vorstandsmitglied für das Archiv für Frauen-, Geschlechter- und Sozialgeschichte Ostschweiz einsetzt. Seit dem Jahre 2011 ist sie als Museumspädagogin im Historischen und Völkerkundemuseum St. Gallen tätig.
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