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- Nero und die Deutschen. Der römische Kaiser Nero als ,Erinnerungsort‘ der deutschen Literatur von 1800 bis zur Gegenwart
Geschichte
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Verlag:
disserta Verlag
Imprint der Bedey & Thoms Media GmbH
Hermannstal 119 k, D-22119 Hamburg
E-Mail: info@diplomica.de
Erscheinungsdatum: 02.2021
AuflagenNr.: 1
Seiten: 424
Sprache: Deutsch
Einband: Paperback
Nero – viele sehen in ihm einen Christenverfolger, Muttermörder und Künstlerkaiser, der in seiner Herrscherrolle gescheitert und zum Abziehbild des Tyrannen geworden ist, anderen erscheint er als genialer, aber verkannter Staatenlenker. Vom Mittelalter bis in die Gegenwart spielt der Nero-Mythos eine bedeutende Rolle in der deutschen Kultur, da seine Person zu den am meisten rezipierten historischen Figuren in der deutschen Literatur gehört – umso verwunderlicher ist es, dass bis heute keine Überblicksdarstellung existiert, welche die Gesamtheit der deutschsprachigen Nero-Literatur abbildet. Dieses Buch erfasst zunächst die Quellenüberlieferung der Antike, die den folgenden Jahrhunderten ein negatives, aber beliebig adaptierbares Nero-Bild hinterließ, welches aber ab der Mitte des 19. Jahrhunderts zunehmend in Auflösung begriffen war. Es werden bisher unbekannte Darstellungen erschlossen und Leittexte (etwa von Schiller, Brecht oder Feuchtwanger) werden neu gedeutet. Dabei wird gezeigt, dass Nero eine historische Persönlichkeit ist, in welche deutschsprachige Autoren immer wieder aktuelle politische und ideologische Fragen projizieren, um die Gegenwart anhand und mithilfe der Geschichte zu reflektieren.
Textprobe: Kapitel 1.2.1 Zur Literarisierung von Geschichte am Beispiel des römischen Kaisers Nero: Im Falle ,literarisierter Geschichte‘ gilt es zunächst die Problematik zu beachten, dass die Geschichtswissenschaft auf Quellen basiert, die oftmals unvollständig oder widersprüchlich sind. Die Vergangenheit ist also nicht absolut fassbar, sondern enthält mitunter Leerstellen, welche Raum für fiktive Ergänzungen geben. Zunächst muss also immer hinterfragt werden, inwiefern die jeweiligen Autoren diese Leerstellen gefüllt sowie die ihnen vorliegenden Quellen bearbeitet, in ihrem Sinne gedeutet oder ergänzt haben. Im Gegensatz zum Historiker kann sich der Verfasser literarischer Texte den geschichtlichen Ereignissen also subjektiv annähern, frei zwischen Fakten und Fiktion entscheiden sowie eventuelle historische Leerstellen füllen. Damit ist der Begriff ,literarisierte Geschichte‘ als Oxymoron zu verstehen, das nur schwer zu konkretisieren ist. Um wissenschaftliche Genauigkeit anzustreben, muss sich der Historiker auf verifizierbare Fakten konzentrieren und Ausschmückungen, Mythen oder Ergänzungen ignorieren. Autoren hingegen können ihre Tätigkeit jedoch versehen, indem sie solche fiktiven Zusätze oder Beiwerke billigend in Kauf nehmen, diese sogar noch ausschmücken oder weiterentwickeln, da es ohne solch fiktive Ergänzungen keine schillernde, leidenschaftliche oder farbenfrohe Fiktion gäbe. Schon die Poetik des Aristoteles verweist auf den Unterschied zwischen Historiographie und Dichtung: Aus dem Gesagten ergibt sich auch, dass es nicht Aufgabe des Dichters ist mitzuteilen, was wirklich geschehen ist, sondern vielmehr, was geschehen könnte, d. h. das nach den Regeln der Wahrscheinlichkeit oder Notwendigkeit Mögliche. […] sie [Anm., Dichter und Historiker] unterscheiden sich vielmehr dadurch, daß der eine das wirklich Geschehene mitteilt, der andere, was geschehen könnte. Daher ist Dichtung etwas Philosophisches und Ernsthafteres als Geschichtsschreibung denn die Dichtung teilt mehr das Allgemeine, die Geschichtsschreibung hingegen das Besondere mit. Das Allgemeine besteht darin, daß ein Mensch von bestimmter Beschaffenheit nach der Wahrscheinlichkeit oder Notwendigkeit bestimmte Dinge sagt oder tut – eben hierauf zielt die Dichtung, obwohl sie den Personen Eigennamen gibt. Angewendet auf Nero bedeutet der Ansatz des Aristoteles also, dass die Person des römischen Kaisers oftmals in den ihr von den Dichtern und Autoren zugeschriebenen Eigenschaften und Taten etwas ,Allgemeines‘ repräsentiert: den typischen Tyrannen, der in seiner charakterlichen Entwicklung die Wende zum Negativen durchläuft. Zudem offenbart der Unterschied zwischen Dichtung und Historiographie ein weiteres, hervorstechendes Charakteristikum Neros als literarische Figur: Zwar existieren viele antike Überlieferungsträger, die ein negatives und stereotypes Nero-Bild vermitteln gleichzeitig liegen jedoch auch positive und differenzierende Belege vor, sodass die Biographie Neros nicht mit Sicherheit zu fassen ist. Aus diesem Grund bleiben gerade bei Nero viele Leerstellen offen, welche den Autoren Raum für die fiktive Ausgestaltung des Stoffes bieten. Darum ist es interessant zu hinterfragen, welche Quellen die Autoren ausgewählt, inwiefern sie den historischen Stoff in ihrem Sinne bearbeitet und welche Schwerpunkte sie bei der literarischen Umsetzung der Figur des letzten Juliers gesetzt haben. Es geht also um den Umgang mit der literarischen Nero-Figur und nicht um den historiographisch überlieferten Nero. Inwiefern die Verfasser der einzelnen Texte allerdings den gattungsspezifischen Hiatus von Fiktion und Historie zu verstecken oder bewusst hervorzuheben versucht haben, bleibt letztlich diesen selbst überlassen. Wesentlich sind im Falle Neros also nicht die historisch verifizierte Faktenlage, sondern die Umsetzung und Bearbeitung der Quellen durch die jeweiligen Autoren. Dabei gilt es jedoch zu beachten, dass in der Regel dramaturgisch geeignete Aspekte aus dem Leben und den Taten Neros unabhängig von der historischen Korrektheit zu neuen Nero-Bildern zusammengesetzt werden. Des Weiteren muss berücksichtigt werden, dass mehrere Stufen der Bearbeitung und Rezeption eines historischen Themas existieren. Dabei zeigt sich oftmals ein Zyklus, welcher von Stufe zu Stufe eine steigernd[e] zeitlich[e] und strukturell[e] Raffung und Simplifizierung verfolgt: Zunächst wird das in den historischen Quellen überlieferte Ereignis in der fachwissenschaftlichen Geschichtsdarstellung bearbeitet. Darauf folgen meist für ein breites Publikum angelegte Textversionen, wie beispielsweise der historische Roman, an den sich mitunter die filmische Verarbeitung des Stoffes anschließt. In diesem Prozess gehen viele historische Genauigkeiten verloren. Aus diesem Grund ist es eine lohnende Aufgabe, sich mit den Fiktionalisierungsstrategien – wie etwa der Transformation der Quellenbasis – von Dichtern und Autoren in möglichst kritischer Aufmerksamkeit auseinanderzusetzen. Als weiterer Punkt zu ,literarisierter Geschichte‘ am Beispiel Neros muss berücksichtigt werden, dass lange etablierte Fakten durch eine Neuinterpretation der Quellen in einem völlig anderen Licht erscheinen können, was zum Beispiel gerade in Bezug auf Nero Alfred Döblin in seinem Essay über den historischen Roman ironisch vermerkt hat: In letzter Zeit erschien eine Studie über den römischen Kaiser Nero [Anm., gemeint ist Arthur Weigalls Nero – The singing emperor of rome (1931)], der uns immer als Gipfel cäsarischer Verrücktheit vorgestellt wurde. Aber plötzlich hören wir, die alten Quellen taugen nichts, Tacitus und Konsorten haben aus reaktionärer Gesinnung gelogen, entstellt und so weiter, der Nero war ein fortschrittlicher Mann und nicht schlimmer als andere seiner Zeit. Ja, wo kommen wir da hin. Man kann nicht verbürgen, daß morgen die steinerste [sic!] Figur schwankt. Lange Jahre orientierte sich die ,literarisierte Geschichte‘ am Beispiel Neros an der negativ geprägten Überlieferung der Senatsaristokratie sowie der christlich geprägten Deutungshoheit. Doch seit den siebziger und achtziger Jahren des 20. Jahrhunderts ist in der deutschen Literatur ein auffälliger Wandel in der Rezeptionsgeschichte Neros nachweisbar, welcher mit der kritischen Quelleninterpretation der Altertumswissenschaften korreliert. Aus diesem Grund müssen das Geschichtsbild und die Geschichtsauffassungen der Autoren respektive ihrer Schreibgegenwart ebenso berücksichtigt werden wie die Umsetzung und Bearbeitung der Quellen. Als letztes gilt es zu beachten, dass ,literarisierte Geschichte‘ auch auf besondere Weise die politische und gesellschaftliche Gegenwart der Autoren reflektiert. Aus diesem Grund konzipiert die vorliegende Studie auch eine Literaturgeschichte der Nero-Adaptionen vom Beginn des 19. Jahrhunderts bis zur Gegenwart, indem sie die Nero-Figur als Teil der kulturellen deutschen Geschichte veranschaulicht. Dabei wird der historische Gegenstand in der Literatur stets neu hervorgebracht und wirkt damit zugleich auf die Kultur zurück, die dies leistet. Aus diesem Grund reflektieren die untersuchten Nero-Texte also niemals nur die Vergangenheit der neronischen Epoche, sondern immer auch Ereignisse ihrer Schreibgegenwart. Konkret bedeutet dies, dass im Falle der Nero-Literatur oftmals zeitgenössische Bezüge hergestellt werden, zum Beispiel das übersteigerte Nationalgefühl der Gründerjahre oder die Auseinandersetzungen mit dem NS-Regime. Die Darstellung der Vergangenheit ist daher oftmals als Analogie zu aktuellen Geschehnissen zu deuten, welche Erläuterungen, Rechtfertigungen oder Mahnungen aus der Geschichte ableitet, da im Grunde viele Autoren Ereignisse ihrer Schreibgegenwart mithilfe der Historie zu veranschaulichen versuchen. Inwiefern die literarische Verarbeitung dieser Ereignisse jedoch dezidiert dargestellt oder verschleiert wird, liegt einzig im Ermessen des Autors. ,Literarisierte Geschichte‘ vermag also im historischen Gewand die Begebenheiten und Entwicklungen der Schreibgegenwart zu spiegeln, um politische oder gesellschaftliche Phänomene jener Gegenwart besser deuten und verstehen zu können. Somit demaskiert literarisierte Geschichte die politische und gesellschaftliche Schreibgegenwart im Gewand der Vergangenheit und konfrontiert den Leser mit der politischen Wirklichkeit seines Daseins. Aus diesem Grund verleiht die literarische Verarbeitung der Geschichte auch dem Wunsch nach historischer Verankerung und Orientierung in der Schreibgegenwart Ausdruck, da sie je nach Anwendung die Möglichkeit bietet, sich zu besinnen, zu trösten, zu kritisieren oder imaginär Rache zu üben.
Christian Böhm wurde 1983 in Homburg/Saar geboren. Examiniert in Germanistik und Geschichte, ist der Autor neben seiner Tätigkeit als Lehrer auch als Lehrbeauftragter an der Universität des Saarlandes beschäftigt gewesen. Aufgrund seines Interesses an der Person des römischen Kaisers Nero und in Anbetracht der Vielzahl der literarischen Texte über den letzten Kaiser der julisch-claudischen Dynastie in der deutschen Literatur entstand der Entschluss, sich der Thematik des vorliegenden Buches zu widmen.
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