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- "Was wäre gewesen, wenn...?" Alternativweltgeschichtliche Literatur 1990-2010
Geisteswissenschaften
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Verlag:
Bachelor + Master Publishing
Imprint der Bedey & Thoms Media GmbH
Hermannstal 119 k, D-22119 Hamburg
E-Mail: info@diplomica.de
Erscheinungsdatum: 09.2013
AuflagenNr.: 1
Seiten: 72
Abb.: 8
Sprache: Deutsch
Einband: Paperback
Das vorliegende Fachbuch beschäftigt sich mit dem Thema der kontrafaktischen beziehungsweise parahistorischen Alternativweltgeschichte. Es geht sowohl um den Bereich des Geschichtsschreibers als auch um den des Dichters. Anfangs wird sich dem Bereich der Geschichtswissenschaft gewidmet, wobei erörtert wird, welche Einwände gegen kontrafaktische Fragen vorherrschen und welchen Nutzen sie im Gegenzug haben können. Anschließend wird die Seite des Dichters behandelt, wobei das literarische Genre des alternativweltgeschichtlichen Romans untersucht wird. Es geht darum, das bislang eher weniger bekannte Phänomen einem Genre zuzuordnen und schließlich exemplarisch anhand von fünf Romanen herausragende Vertreter desselben zu analysieren. Bei diesen fünf Romanen handelt es sich um Fatherland von Robert Harris, Der 21. Juli von Christian von Ditfurth, Stimmen der Nacht von Thomas Ziegler, Morbus Kitahara von Christoph Ransmayr und Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten von Christian Kracht. Die bisherige Beschäftigung mit alternativweltgeschichtlicher Literatur beschränkte sich zumeist auf englischsprachige Romane, was darauf zurückzuführen ist, dass dieses Phänomen im anglo-amerikanischen Raum wesentlich ausgeprägter ist als im Deutschen. In dieser Arbeit wird nun der Blick auf die deutschsprachigen Vertreter gelenkt, wobei gleichsam als Prototyp für das Genre Robert Harris’ Roman Fatherland die einzige englischsprachige Ausnahme sein soll. Am Ende eines jeden Bereichs wird darüber hinaus ein didaktischer Ansatz präsentiert. Dabei wird der Frage nachgegangen, inwiefern das Dargestellte eine Bereicherung für den Geschichts- beziehungsweise Deutschunterricht sein könnte
Textprobe: Kapitel 3, Aus der Perspektive des Dichters: Parahistorische Literatur: 3.1, Überblick: Die Gattung der parahistorischen Literatur ist ein vergleichsweise junges Phänomen. 1899 erschien mit Edmund Lawrences Roman It May Happen Yet: A Tale of Bonaparte’s Invasion of England die erste durchgängige Darstellung einer parahistorischen Welt. Zuvor waren jedoch schon vereinzelte alternativweltgeschichtliche Fragestellungen in literarischen Werken oder Essays erschienen. So wird in William M. Thackerays Vanity Fair von 1847 die Frage diskutiert, was passiert wäre, wenn Napoleon später aus dem Exil zurückgekehrt wäre. Heinrich Heine fragt in seinem Wintermärchen von 1844 in Form eines Gedichts, was wohl passiert wäre, wenn Varus bei der Schlacht im Teutoburger Wald im Jahre 9 n. Chr. die Germanen besiegt hätte. Seine wirkliche Blütezeit erlebte der parahistorische Roman jedoch erst nach dem Zweiten Weltkrieg in den Vereinigten Staaten und Großbritannien. Während darauffolgend in unterschiedlichsten Ländern wie Mexiko, den Niederlanden oder Italien parahistorische Erzählungen erschienen, begann in Deutschland diese Bewegung erst in den ausgehenden 80er und beginnenden 90er Jahren. Erst mit dem internationalen Erfolg von Robert Harris’ Roman Fatherland von 1992, so scheint es, kam der parahistorische Roman in Deutschland an. Danach wurden viele internationale Werke dieser Art ins Deutsche übersetzt und es erschienen auch die ersten eigenen Romane deutschsprachiger Autoren. Doch warum erlebte gerade in den 90er Jahren das Genre einen solchen Boom in Deutschland? Was war der Grund für das plötzliche Interesse an Alternativweltgeschichte? Vielleicht hat sich im Zuge der Wiedervereinigung Deutschlands, dem Fall des Eisernen Vorhangs und den damit verbundenen posthistorischen Theorien eine neue Form der Vergangenheitsbewältigung in der deutschen Mentalität herausgebildet. Die in den späten 80er und 90er Jahren entwickelten posthistorischen Theorien von Lyotard, Baudrillard, Fukuyama, Niethammer und Sloterdijk passen zur kontrafaktischen Geschichtsauffassung. In der Posthistoire-Theorie gehen die Autoren davon aus, dass die Geschichte auf ein sinnbringendes Ende ausgerichtet ist. Entlehnt aus der Evolutionstheorie befände sich die Menschheit in einem soziokulturellen Entwicklungsprozess, der im Begriff sei, zur selbst reproduzierenden Struktur zu erstarren. Ab einem gewissen Punkt, der für viele der Autoren erreicht ist, träten keine epochalen Ereignisse mehr ein, die die vorherrschende Geschichte radikal verändern könnten. Beispielsweise beschreibt der Amerikaner Francis Fukuyama in seinem 1992 veröffentlichten Buch The end of history and the last man die Entwicklungen der großen Regime des 19. und 20. Jahrhunderts und stellt fest, dass das Ziel eines jeden Staates die Entwicklung zur liberalen Demokratie ist. What I suggested had come to an end was not the occurrence of events, even large and grave events, but History: that is, history understood as a single, coherent, evolutionary process, when taking into account the experience of all peoples in all times. […] Liberal democracy remains the only coherent political aspiration that spans different regions and cultures around the globe. Für Deutschland zeigt sich dies ganz besonders. Innerhalb eines Jahrhunderts war das Land geprägt von Monarchie und den ‘two major rival ideologies - fascism and communism’, um schließlich in einer Staatsform liberaler Demokratie zu enden. Wenn also das evolutionäre Ziel der Weltgeschichte erreicht wurde, ist es vielleicht nun gestattet, sich rückblickend auch mit Alternativweltgeschichte zu befassen. Eine weitere Auffälligkeit ist, dass die parahistorischen Romane sehr häufig als Sujet die Geschichte des 20. Jahrhunderts, zumeist die des Nationalsozialismus beziehungsweise des Zweiten Weltkriegs behandeln. Vermutlich herrscht hier ein besonderes Bedürfnis nach der Frage ‘Was wäre gewesen, wenn…?’ 3.2, Gattungseinordnung: Eine passgenaue Zuordnung zu einer bestimmten literarischen Gattung erweist sich für den parahistorischen Roman als durchaus schwierig. Zweifellos rangiert er zwischen dem historischen Roman, der Science-Fiction Literatur und den utopischen beziehungsweise dystopischen Erzählungen. Jörg Helbig, der sich 1988 als einer der ersten Literaturwissenschaftler mit dem Thema befasste und auch den Begriff des parahistorischen Romans prägte, definiert die Gattung folgendermaßen: Parahistorische Romane schildern alternative Welt- und Gesellschaftsstrukturen, die aus einer hypothetischen historisch-immanenten Abwandlung des faktischen Geschichtsverlaufs resultieren. Ähnlich sieht es auch Christoph Rodiek in seinem Beitrag zu dem Thema von 1997: Unter ‘Uchronie’ ist nicht eine willkürlich erzeugte ‘imaginäre’ Geschichte zu verstehen, sondern eine möglichst plausible ‘hypothetische’ Vergangenheit. Realitätsferne Möglichkeiten, besonders solche, die nichtexistierende Dinge (supernumeraries) zum Gegenstand haben, zählen nicht dazu. Sowohl Helbig als auch Rodiek machen die literarische Qualität der parahistorischen Erzählung an ihrer Plausibilität fest. Helbig bezeichnet sogar unwahrscheinliche historische Alternativentwicklungen als heuristisch minderwertige parahistorische Literatur. Ein Grund, warum Uwe Durst zu dem harten Urteil kommt: ‘Helbigs Untersuchung ist weit davon entfernt, eine literaturwissenschaftliche Poetik parahistorischer Erzählliteratur zu entwerfen.’ Offenbar, so Durst, versuchen die Autoren, das Genre ‘als relevanten Forschungsgegenstand zu legitimieren’, in dem man es in einen seriösen Kontext mit der geschichtswissenschaftlichen Auseinandersetzung mit der kontrafaktischen Geschichte bewegt. ‘Das Genre wird hierdurch überfordert.’ Zwei Gründe sprechen gegen eine literarische Qualitätsbemessung anhand von Plausibilitäts- und Realitätsstufen: Zum Einen erschien, wie schon in Abschnitt 2 herausgearbeitet wurde, die Realhistorie häufig selbst im Vorfeld an vielen Stellen verblüffend unwahrscheinlich, unplausibel und unrealistisch. Zum Anderen stellt sich die Frage, ob Literatur überhaupt oder zu welchem Grad realistisch und plausibel sein muss. Der Philosoph Hans Blumenberg formulierte bereits 1964 in seinem Aufsatz Wirklichkeitsbegriff und Möglichkeit des Romans die These, dass der Roman der ‘Inbegriff des Sichdurchhaltens einer Syntax von Elementen’ sei und dadurch konstituiert würde, dass ‘er bestimmten Regeln der inneren Konsistenz’ gehorche. Das bedeutet, dass der Roman, der den Anspruch hat, nicht ‘nur die Welt nachbildend darzustellen, sondern eine Welt zu realisieren’, vollkommen legitimiert ist, solange er die selbst gebildeten Strukturen der erschaffenen ‘zweiten Welt’ konsistent durchhält und diese eben nicht im Vergleich zur Wirklichkeit rechtfertigen muss. Für die parahistorischen Geschichten pointiert dies Uwe Durst: Entscheidend ist allein die Struktur der historischen Entwicklung, die innerhalb der fiktionalen Erzählung als eigentliche, ‚wirkliche‘, angeblich nicht-fiktionale Historie konstruiert wird. Jede andere Betrachtungsweise ignoriert das literarische Faktum. Durch ihre auf Realismus fixierten Definitionen der parahistorischen Literatur, die allenfalls auf die kontrafaktischen Gedankenspiele der Geschichtswissenschaft, keinesfalls jedoch auf die Ästhetik angewendet werden können, klammern Helbig und Rodiek einen großen Teil an Literatur, die zwar prinzipiell parahistorisch oder uchronisch, jedoch leider auch an vielen Stellen unrealistisch oder wunderbar sind, aus. In den später noch eingehender zu analysierenden Werken Stimmen der Nacht und Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten tauchen einige Elemente auf, die ganz und gar nicht realistisch sind. Die ‘Kletten’ in Stimmen der Nacht sowie die ‘Sonden’ in Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten sind beispielsweise Technologien, die eher an Science-Fiction Romane erinnern. Die sogenannten ‘Stimmen der Nacht’ selbst oder die ‘Rauchsprache’ in Krachts Roman sind phantastische, höchst unrealistische Elemente. Und trotzdem wäre es ein Fehler, ausgehend von den beiden genannten Definitionen, diese Romane nicht in den Kreis der parahistorischen Literatur aufzunehmen, denn parahistorisch sind sie im höchsten Maße. Besonders stellt sich auch die Frage nach Zeitreisegeschichten. In Stephen Frys Making History reist jemand durch die Zeit und verhindert die Geburt Hitlers. Nach den Definitionen von Helbig und Rodiek wäre dies unrealistisch und daher minderwertig beziehungsweise gar nicht erst berücksichtigt. Nach Helbig ‘ist der Eingriff eines Zeitreisenden in den Geschichtsverlauf nicht aus den historischen Umständen heraus ableitbar und steht somit in Widerspruch zu der hier zugrundegelegten Definition parahistorischer Texte.’ Auch Andreas Widmann klammert in seiner Dissertation zu dem Thema, gerade weil er sich hauptsächlich auf Helbig und Rodiek bezieht, Zeitreisegeschichten aus: Da die physikalische Unmöglichkeit des Zurückreisens in der Zeit die entsprechenden literarischen Erzeugnisse aber automatisch für die Science Fiction oder die phantastische Literatur qualifiziert, bleibt die hier vorgeschlagene Bestimmung der als der Gattung des historischen Romans zugehörigen Phänomens auf Romane beschränkt, die ohne Zeitreisehandlung auskommen. Dies bedeutet, dass Stephen Frys Geschichte aufgrund der Zeitreisehandlung nicht in den Kreis der parahistorischen Literatur aufgenommen würde. Wenn ein Autor jedoch Hitlers Geburt aufgrund eines Zufalls verhindert hätte, beispielsweise dadurch, dass Hitlers Mutter vor dessen Geburt von einem Zug überfahren worden wäre, wäre dies aus Helbigs, Rodieks und Widmanns Sicht in Ordnung. Es wird deutlich, wie engmaschig das zugrundegelegte Definitionsraster gespannt ist. Solche auf Realismus fixierte Definitionen gehören vielmehr in den Bereich der geschichtswissenschaftlichen Bearbeitung des Phänomens, die in Abschnitt 2 beschrieben wurde. Für die Literatur sind sie mangelhaft. Eine weitere Hürde, die sich die Autoren selbst stellen, ist, dass sie den parahistorischen Roman aufgrund seiner Bezeichnung dem historischen Roman unterordnen. Der historische Roman geht nach Hugo Aust aus der ‘Wechselbeziehung zwischen Geschichtswissenschaft und epischer Kunst’ hervor. Er erzählt im Grunde ‘von politischen Handlungen der Vergangenheit, die mehr oder minder mit privaten Handlungen einer erfundenen Geschichte verknüpft sind.’ Als Prototypen des historischen Romans gelten die Werke von Walter Scott in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Georg Lukács beispielsweise konstatierte, dass allen Romanen zuvor das ‘spezifisch Historische’ gefehlt hätte. Diese Form des historischen Romans war dezidiert auf Realismus ausgelegt. Selbst Fußnoten und Anmerkungen waren darin enthalten. Dichtungsziel war es, ‘das Geradeso-Sein der historischen Umstände und Gestalten mit dichterischen Mitteln zu beweisen.’ Doch gerade darum geht es ja in dem parahistorischen Roman nicht. Er will nicht das Geradeso-, sondern das Ebennichtso-Sein der historischen Umstände erzählen. Aus diesem Grund ist der historische Roman keine Oberkategorie für den parahistorischen Roman, sondern vielmehr metaphorisch gesprochen ein Bruder der Gattung. Und diese Gattung darf auch phantastische oder Science-Fiction-Elemente beinhalten. Selbst wenn wie in Zeitreisegeschichten diese Elemente den Wendepunkt der historischen Entwicklung herbeiführen. Ausgehend von Blumenbergs und Dursts Thesen bedeutet dies, dass es egal ist, wodurch der Wendepunkt der Geschichte zustande kommt, solange die Geschichte, die dort konstruierte ‘zweite Welt’, daraufhin konsistent weiter erzählt wird und ihrer eigens auferlegten ‘Syntax von Elementen’ folgt. Als Fazit lässt sich folgendes festhalten: Rodieks von Demandt übernommene Metapher, der Uchronist operiere ‘mit den gegebenen Größen nach gegebenen Regeln auf dem gegebenen Schachbrett, eben nur in anderer Weise, als Klio dies’ tue, ist einleuchtend für die geschichtswissenschaftliche Auseinandersetzung mit kontrafaktischer Geschichte. In der Literatur sind gleichsam die Spielregeln mit der Erlaubnis von Kalliope erweitert.
Alexander Batzke, M.Ed., wurde 1986 in Bottrop geboren. Sein Studium der Germanistik und Geschichte an der Ruhr-Universität Bochum schloss er im Sommersemester 2013 mit dem akademischen Grad des Masters of Education ab. Im November desselben Jahres begann er sein Referendariat für das Lehramt an Gymnasien und Gesamtschulen in Münster. Neben seiner langjährigen Arbeit im Bereich der Nuklearbehälterdokumentation sowie des Strahlenschutzes bei der Gesellschaft für Nuklearservice in Essen erlangte der Autor auch Einblicke in die Archivarbeit beim historischen Konzernarchiv des RWE. Sein Interesse an Technik- und Umweltgeschichte spiegelte sich 2011 in seiner Bachelor Arbeit mit dem Titel Sicherheit und Innovationen im Bergbau Ende des 19. Jahrhunderts wider. In seiner Master Arbeit Was wäre gewesen, wenn…? schaffte der Autor schließlich ein Konglomerat aus seinen beiden Studienfächern, indem er sich dem Thema Alternativweltgeschichte aus sowohl Geschichts- als auch Literaturwissenschaftlicher Perspektive näherte. Alexander Batzke ist verheiratet und lebt in Münster.