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- Szenische Interpretation am Beispiel von Dürrenmatts "Die Physiker" in einer Einführungsstufe 10 im Fach Deutsch
Geisteswissenschaften
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Verlag:
Bachelor + Master Publishing
Imprint der Bedey & Thoms Media GmbH
Hermannstal 119 k, D-22119 Hamburg
E-Mail: info@diplomica.de
Erscheinungsdatum: 03.2015
AuflagenNr.: 1
Seiten: 52
Abb.: 6
Sprache: Deutsch
Einband: Paperback
Die Szenische Interpretation ist ein ganzheitlich orientiertes, kooperatives Lern- und Interpretationsverfahren zur Deutung eines literarischen Textes, das sowohl körperliche Handlungen wie auch sinnliche Wahrnehmungen und geistige Reflexionen der Schülerinnen und Schüler anregt, um ihre Sensibilität, ihre sachliche Kompetenz sowie ihre Urteils- und Gestaltungsfähigkeit zu entwickeln. Das vorliegende Konzept der szenischen Interpretation im Rahmen der literarischen Auseinandersetzung mit Friedrich Dürrenmatts Drama ‚Die Physiker‘ in einer Einführungsstufe 10 ist zudem der Versuch, auf die gewandelten Lernvoraussetzungen der Heranwachsenden in einer modernen, reizüberfluteten, multimedialen Gesellschaft zu reagieren und sie mittels einer Synthese aus handlungsorientierten, produktiven und analytischen Verfahren an die deutsche Literatur heranzuführen. Auf theoretischer Grundlage wird die didaktisch-methodische Relevanz der Szenischen Interpretation für die Rezeption eines literarischen Textes erläutert und in der Umsetzung erprobt, reflektiert und systematisch evaluiert.
Textprobe: Kapitel 3.4.2, Das Primat der Tätigkeit – Ganzheitliche Begründungen: Albrecht Schau entwickelte 1996 in seinem literaturdidaktischen Handbuch ein Konzept der szenischen Interpretation, dass – anders als der rezeptionstheoretisch fundierte Ansatz Klinges – auf der Grundlage der Tätigkeitstheorie basiert. Vertreter der sogenannten kulturhistorischen Schule wie Galperin, Leontjew oder Wygotski sehen im Tätigsein ein generatives Merkmal des Menschen und ein ihn bestimmendes notwendiges Lebensprinzip. Von Geburt an erwirbt der Mensch in einem einheitlichen und ganzheitlichen Prozess ein Tätigkeitsrepertoire, das er für die Orientierung und für das Agieren in der Welt benötigt. In Analogie dazu kann sowohl das Lesen als auch das szenische Interpretieren eines Textes als ganzheitlicher Prozess des Tätigseins erfasst werden. Das Verfahren der szenischen Interpretation soll dabei über die szenische Darstellung der Primärrezeption als Vorbereitung zur Analyse hinausgehen und als didaktische Instruktion zum Verständnis literarischer Schriften fungieren. Es soll den Interpretationsprozess vorantreiben und veranschaulichen und das sinnliche Verstehen bereichern. Schau legt besonderen Wert darauf, das Verfahren der szenischen Interpretation nicht als Alternative, sondern vielmehr als Ergänzung eines kognitiv-analytisch ausgerichteten Literaturunterrichts zu begreifen. Diese Auffassung trifft in der aktuellen Forschung auf allgemeinen Konsens. Auch beim szenischen Interpretieren bleibt der literarische Text die feste Bezugsgröße des Analysevorgangs. Traditionelle Verfahren sollen und können nicht abgelöst werden, werden aber durch neue und sinnvolle Wege zur Vermittlung und zum Verständnis literarischer Texte ergänzt. Dabei spielen zeitweilig auch die Körpersprache und die sinnliche Wahrnehmung eine zentrale Rolle. Orientiert am humanistischen Bildungsideal und ausgehend vom Primat der Tätigkeit , wird das szenische Interpretieren demnach als eine ganzheitliche oder integrierte Form der Literaturvermittlung und Literaturaneignung bezeichnet, ausgehend von und hinführend zu einer allumfassenden, d. i. ganzheitlichen Entfaltung und Bildung aller Persönlichkeitsanteile der Schülerinnen und Schüler: die sinnliche Wahrnehmung, die Emotionalität, die Motorik, die Sprache des Körpers und des Geistes sowie das Bewusstsein. Das szenische Interpretieren fordert eine aktive Teilhabe an der Literatur und tendiert dementsprechend zu einer offenen Unterrichtsform entdeckenden Lernens und reflektierten Handelns. Seine wesentlichen Ziele bestehen nach Schau sowohl in der Wiederentdeckung und Intensivierung einer anscheinend schwindenden Faszination für die Literatur wie auch in der genussvollen Aneignung eines kritischen Literaturverständnisses. 3.4.3, Die Entwicklung der Imagination: Nach Kaspar H. Spinner ist insbesondere das Schaffen eines Vorstellungsbildes Voraussetzung für jeden literarischen Verstehensprozess 8 und sollte ein grundsätzliches unterrichtsdidaktisches Anliegen sein. Produktive Verfahren9 wie die Szenische Interpretation können erfolgreich eingesetzt werden, wenn die Schülerinnen und Schüler dazu angeregt werden sollen, Charaktere, Einstellungen, Empfindungen und Handlungen der Figuren in ihrer Vorstellung zu ergänzen und zu inszenieren. Im Zeitalter multimedialer Sozialisation, in dem Film, Fernsehen und Videospiele durch ihre hohe audiovisuelle Anschaulichkeit wenig Raum für die eigene Vorstellungskraft lassen, erscheint die Förderung eben dieser aktiven Imaginationsfähigkeit bei den Jugendlichen von besonderer Dringlichkeit. Produktive Verfahren bieten insbesondere denjenigen, die eher bildhaft und in Analogien denken als in abstrakten Begriffen, eine Möglichkeit ihre Textrezeptionen in den Unterricht einzubringen. 3.4.4, Die Bedeutung des Gestaltens: Ebensolche produktiven Beiträge tragen dazu bei, dass die Schule auch ein Ort ästhetisch-kulturellen Erlebens sein kann, wenn auf der Grundlage der Literatur in gemeinschaftlicher Arbeit vielfältige, höchst individuelle Erkenntnis-, Verständnis- und Schaffensprozesse in Gang kommen, die in einer sprachlichen, körperlichen oder instrumentellen Ausgestaltung oder Darbietung ihren ästhetischen Ausdruck finden.10 Im Gestalten selbst sieht Spinner eine Grundform des menschlichen Verhaltens zur Umwelt 11 und spannt diesbezüglich den Bogen zwischen den rezeptionsästhetischen Ansätzen Klinges und der Tätigkeitstheorie von Schau. Anhand produktiver Formen soll das Vermögen gefördert werden, die eigene Umwelt aktiv zu gestalten und das eigene Leben möglichst selbstverantwortlich und gemäß individueller und sozialer Bedürfnisse zu formen. Die produktiven Verfahren fördern nicht nur das aktive Mitwirken der Lernenden an der Sinnbildung eines literarischen Textes, sondern machen ihnen diesen Prozess im Sinne der rezeptionsästhetischen Theorie sichtbar und bewusst. 3.4.5, Identität: Bewusstwerdung des eigenen Rezeptionsprozesses: Während des Lesens und der Erarbeitung literarischer Texte befinden sich die Schülerinnen und Schüler stets in einer individuell geprägten äußeren und inneren Situation, die ihren Erkenntnisprozess maßgeblich beeinflusst (vgl. 2.3). Je nach den Begleitumständen der Rezeption kann die Fähigkeit zur Konzentration oder das inhaltliche Interesse ebenso variieren wie die emotionalen oder rationalen Identifikations- oder Abgrenzungs-mechanismen. Leer- und Unbestimmtheitsstellen im Text werden zunächst mit solchen Bedeutungen gefüllt, die die persönliche Identifikation mit dem Inhalt erleichtern. Die herausfordernde Aufgabe der Lehrperson während der Erarbeitung des Textes ist an dieser Stelle, die Schülerinnen und Schüler dahingehend zu unterstützen, dass sie sich erstens ihre eigenen Wünsche, Vorstellungen und Erlebnisse im Umgang mit Literatur bewusst machen. Zweitens sollen sie sich eben dieser automatischen Übertragung ihrer Person auf den Text gewahr werden, indem die zum großen Teil unbewussten, egozentrischen Deutungsmuster mithilfe produktiver Verfahren im Rahmen der szenischen Darstellung verdeutlicht und somit unmittelbar ins Bewusstsein der Schülerinnen und Schüler gerückt werden. Daraus resultierende Abweichungen, Verzerrungen, Verschiebungen oder Unschärfen in den Deutungen des Textes werden nicht ausgegrenzt, sondern zur näheren Untersuchung zunächst zugelassen. Lässt der Lehrkörper den Schülerinnen und Schülern die Möglichkeit, ihre eigenen Lesarten zum Ausdruck zu bringen und ihre Deutungsangebote zu artikulieren, nimmt er ihnen zeitgleich den Anspruch, sich nur nach seinen ausdrücklichen oder impliziten Erwartungen auszurichten. Die Ausgestaltung szenischer Interpretationsverfahren muss derart sein, dass neben dem Text auch die Vorstellungen, Lesarten und Inszenierungen der Schülerinnen und Schüler thematisiert12 und reflektiert werden sollen. Wenn im Literaturunterricht nun die Subjektivität des Textverständnisses seitens Schülerinnen und Schüler berücksichtigt werden soll, so müssen Voraussetzungen dafür geschaffen werden, damit jeder seine eigenen – wenn auch eigenwilligen – Vorstellungen ausdrücken und sich von der tatsächlichen oder vermeintlichen Erwartungshaltung der Klasse und des Lehrers loslösen kann. Dazu muss den Schülerinnen und Schülern vor dem Hintergrund der Institution Schule ein auf Regeln und Rollen fundierter, geschützter Raum geboten werden, in dem sie sich in ihrer Fremd- und Selbstdarstellungen erfahren und erproben können,13 ohne als Person bloßgestellt oder auf den Prüfstand gestellt zu werden. Nach Spinner wird den Kindern und Jugendlichen dadurch die Entwicklung eines Selbstbewusstseins im doppelten Sinne, nämlich Bewusstsein ihrer selbst und Selbstsicherheit 14 ermöglicht, was auf individueller wie sozialer Ebene durchaus von Bedeutung sei. Eine solche durch die Auseinandersetzung mit Empfindungen, Bedürfnissen oder Konflikten angeregte Identitätsfindung seitens der Schülerinnen und Schüler ist nach Spinner durchaus erstrebenswert. Allerdings sollen produktive Verfahren nicht als Mittel zur Therapie missverstanden werden. Das Verfahren des szenischen Interpretierens setzt nicht bei der Persönlichkeit der Jugendlichen an, sondern immer am literarischen Text und an der Bedeutung, die er für das jeweilige Klassenmitglied hat.15 Es ist allerdings dieses vom Text subjektive Angesprochenwerden, das erstens zu einer größeren Ich-Beteiligung seitens der Schülerinnen und Schüler führt und zweitens die didaktisch erstrebenswerte Verbindung zwischen ihrer persönlichen sowie der im Text dargestellten Weltsicht herstellt.16 Von diesem individuellen Textzugang ausgehend, haben sie die Möglichkeit, sich selbst zu entdecken und den Text entdeckend zu erarbeiten.
Dario Corradini, StR., wurde 1980 in Esch-sur-Alzette in Luxemburg geboren. An der Universität zu Köln studierte er bis 2009 Germanistik und Philosophie auf Lehramt und schloss zwei Jahre später als Studienreferendar sein zweites Staatsexamen erfolgreich ab. Neben seinem Studium wurde der Autor in der Kunst des Theaterschauspiels unter der künstlerischen Leitung von V. Alvarez ausgebildet, lernte eigene Stücke zu verfassen, sie in Szene zu setzen und auf der Bühne zu spielen. Als Lehrer führt er diese Leidenschaft im Rahmen seines Unterrichtes und der Theater-AG am Hansa-Gymnasium in Köln mit großem Erfolg weiter.