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- Sprache als Medium: Wie mediale Formen den Poetry Slam prägen
Geisteswissenschaften
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Verlag:
Bachelor + Master Publishing
Imprint der Bedey & Thoms Media GmbH
Hermannstal 119 k, D-22119 Hamburg
E-Mail: info@diplomica.de
Erscheinungsdatum: 01.2014
AuflagenNr.: 1
Seiten: 48
Sprache: Deutsch
Einband: Paperback
Der Poetry Slam gewinnt derzeit immer mehr und rasanter an Bekanntheit. In Deutschland, Österreich, der Schweiz und Liechtenstein gibt es derzeit über 200 regelmäßige Slam-Veranstaltungen, die Teilnehmer- und Zuschauerzahlen der deutschsprachigen Meisterschaften im Poetry Slam sind in den letzten sieben Jahren drastisch angestiegen. In diesem relativ neuen, populären Literaturformat entsteht eine neue Freude am Umgang mit Sprache. Diese Neuentdeckung der Sprache genau nach den Verbindungen mit der Sprache als Medium hin abzutasten, liegt im Fokus der vorliegenden Arbeit. Es erscheint rentabel, sich zu fragen, was am Poetry Slam medial ist, wie sich das Mediale bemerkbar macht und auf welche Weise es sich auf das Format und seine Teilnehmer auswirkt. Die Arbeit befasst sich mit dem Kulturformat Poetry Slam in Deutschland und geht dabei hauptsächlich den medialen Formen statt den Inhalten nach. Gesprochene, verkörperte und geschriebene Sprache sind die zentralen Elemente des Poetry Slams, den man auch als Vollzugsort der Sprache beschreiben und entdecken kann. Mündlich-, Schriftlich- und Körperlichkeit erzeugen den Kern dieser neuen Kunstform und hinterlassen dabei ihre medialen Spuren.
Textprobe: Kapitel 3.3, Interaktionen: Aus physischem Zusammentreffen entstehen medial geprägte Interaktionen. Wir agieren mit- und reagieren aufeinander, ‚sprechen‘ dabei mit Stimme, Körper, Handlungen, Kleidung etc. und können bekanntlich ‘nicht nicht kommunizieren’. Die technische Ebene dieser Interaktionen wird in Kapitel 4 näher ausgeführt. Im Folgenden liegt der Fokus auf der Rezeptionssituation. Boris Preckwitz hat mit seiner Interaktionsästhetik bereits auf die verschiedenen Interaktionsformen beim Poetry Slam aufmerksam gemacht. Neben dem Hinweis auf die Kommunikationsgefüge zwischen einzelnen Slammern und/oder lokalen literarischen Communities innerhalb der Szene versucht er, die Wechselwirkungen zwischen allen Akteuren während eines Slams (Publikum, Slammer, MC, Veranstalter) nachzuvollziehen. In meinem Interesse ist hierbei das Verhältnis von Autor, Publikum und Rezeptionsräumen. Wie bereits erwähnt macht der Poetry Slam Autoren in gewissem Maße zum Sprachrohr ihres Publikums, da die vorgetragenen Texte in einem Wettbewerb eingehen und dieser von den Zuschauern entschieden wird. Die Ausrichtung auf ein Publikum, das es mitzureißen und zu überzeugen gilt, erfordert ein Hineinversetzen in die Rolle des Zuhörers/Publikums (welches bei den Slam-Autoren meist schon in den Schreibprozess integriert ist). Doch eine weitere mediale Ebene kommt hinzu, denn Sprechen bedeutet auch Sich-sprechen-Hören: ‘Das Individuum, das sich mit stimmlichen Äußerungen an seinen Mitmenschen wendet, hört zwangsläufig immer auch die selbst hervorgebrachten Laute. Durch diesen besonderen Umstand konstituiert sich im Sprechenden eine innere Differenz, in der sich die Differenz zwischen Sprecher und Hörer reproduziert.’ Der Sprechende hört sich selbst, seine Worte wirken ebenso auf ihn ein wie auf sein Publikum. So eignet sich der Sprechende die Rolle des Angesprochenen an und beginnt, sich aus derselben Perspektive zu betrachten wie sein Gegenüber. Das Hineinversetzen in seinen Zuhörer ist offenbar schon im Sprechen selbst (und Sich-sprechen-Hören) verankert. Die Rezeption beim Poetry Slam ist nicht passiv, sondern durch und durch von Interaktion geprägt. Das zeigt sich deutlich bei Performances, die das Publikum als aktiven Part mit einbeziehen, indem sie z.B. gemeinsam auf ein Zeichen des Performers hin einen bestimmten Satz rufen sollen. Ebenso evident wird es bei spontanen Reaktionen und Zwischenrufen während eines Vortrags oder bei der Jurybewertung im Anschluss an die Aufführung eines Textes. Allerdings liegt es auch in der Wesensart einer Aufführung, (inter-)aktiv zu sein. Die Unverfügbarkeit einer Aufführung, die Erika Fischer-Lichte beschreibt, zeigt die Wirkungen zwischen der Aufführung als Ereignis, das geschieht und weder plan- noch steuerbar ist und der ‘Involviertheit aller Beteiligten’ in einer Aufführung (und demzufolge auch deren Interaktionen) auf. Eine Aufführung ereignet sich demnach nicht nur und beeinflusst seine Teilnehmer, die Beteiligten haben auch Einfluss auf den Verlauf und formen diesen mit. Das macht jede Aufführung einzigartig und verdeutlicht, wie stark die Vorträge auch von der Atmosphäre des Abends sowie der Stimmung des Publikums abhängen. Genauso verhält es sich beim Poetry Slam, auch er entsteht letztendlich erst in seinem Verlauf und wird dabei beeinflusst von den Interaktionen aller Akteure. 3.4, Imaginäre Räume: Die Aufführung von künstlerischen Texten ist – dem erweiterten Textbegriff der Cultural Studies folgend – ebenso ‚lesbar‘ wie der literarische Text an sich. Den Rezeptionsräumen, welche hier entstehen, liegt in beiden Fällen außerdem eine hohe Imaginations-Aktivität der Rezipienten zugrunde. Ob beim Lesen oder Hören eines Textes: die Stimmen werden ‘auf der Bühne unseres Geistes’ aufgeführt. Beim stillen Lesen spricht unsere innere Stimme. Es wird eine sprachliche Leistung vollführt, obwohl sie von außen nicht hörbar ist, denn wir lesen den Text mit der Stimme unserer Gedanken. Bereits die Stimme ist hier imaginiert, und doch ist sie für uns hörbar. Beim Hören eines Textes hingegen dringt die Stimme von außen auf uns ein und ist auch für andere Rezipienten zu hören. Beiden Formen der Stimm-Rezeption folgt die Imagination: der Hörer begegnet dem Text und rekonstruiert ihn, macht sich seine eigenen Gedanken dazu, bebildert ihn mit phantasievollen Vorstellungen etc. Dieser Vorgang ist uns nur zu bekannt, wenn wir über Romanverfilmungen schimpfen, weil unsere eigenen Imaginationen zum Buch von dem abweichen, was wir auf der Kinoleinwand sehen. Mit ähnlich phantasievollen Bildern reichern wir auch die Vorstellungen und Eindrücke zu ei-nem Slam-Text oder einer Slam-Performance an. Besonders spannend wird es, wenn man einen zuvor gehörten (live performten) Slam-Text in einer Anthologie oder Textsammlung des Autors erneut liest: Man hört beim Lesen die Stimme des Autors in sich, mit ihrem Sprachklang, Rhythmus und weiteren sprachlichen Merkmalen. Vielleicht sieht man sogar Gestik und Mimik der Performance vorm inneren Auge. Anders herum bietet die Aufführung eines Textes, den man zuvor nur gelesen hat, eine weitere, auditive sowie eine performative Ebene, mit denen man einen ganz neuen Zugang zum Text bekommen kann. Die Auffassung, dass in den Gedanken sprachliche Prozesse ablaufen, geht zurück auf die ‘Massen-Alphabetisierung’ im 19. Jahrhundert. Dank der allmählichen Einführung einer allgemeinen Schulpflicht in Deutschland entstand nach und nach ein lesehungriges Massenpublikum, das mit genügend Büchern versorgt sein wollte. Somit wurde Gutenbergs Drucktechnik zwischen 1800 und 1885 immer weiter optimiert, um die steigende Nachfrage zu decken. Mit der Alphabetisierung lernten die Menschen, alleine und leise zu lesen. Sie lernten dadurch außerdem, ‘Buchstabensequenzen nicht als solchen, sondern als imaginären Bildersequenzen zu folgen.’ Die neue Praxis des Alleinelesens brachte nicht nur Individuen hervor, sondern regte auch die Imagination der Leser an und ließ sie Bilder vor dem inneren Auge sehen sowie die eigene Stimme in ihren Gedanken hören. Ein Text wird vom Leser bei der Lektüre hergestellt. Das scheint nun vor dem Hintergrund der inneren Imaginationen von Stimme und Bildern etwas klarer. Betrachten wir wieder die Aufführungen von Texten, so lässt sich analog dazu sagen, dass der Textraum in der Rezeption entsteht. Raum und Räumlichkeit sind zentrale Begriffe von Liveness und Rezeption, vor allem in Verbindung mit der Imagination. Neben den geometrisch-physikalischen Räumen befinden wir uns beim Poetry Slam (und gewiss nicht nur dort) ebenso in anthropologischen und performativen Räumen. Anthropologische Räume sind von den Menschen und ihren Praktiken erschaffene Räume. In dieser Funktion ähneln sie den performativen Räumen, welche jedoch noch stärker aus der Inszenierung (von Raum und Subjekt) sowie ihrer Ereignishaftigkeit leben. Beide Räume sind dabei keine reinen passiven Behälter, sondern formen ihre Subjekte ebenso als aktives Gefäß mit: ‘Zwar konstituiert sich Raum mit und über die Handlungen, Bewegungen und Wahrnehmungen historischer Subjekte, doch sind diese Vollzüge selbst immer schon räumlich vermittelt und durch räumliche Anordnungen geprägt. […] Es gilt also, [auch] den performativen Raum als einen Raum zu begreifen, der von historischen Subjekten in Szene gesetzt wird und diese zugleich selbst inszeniert.’ Die Stimme hat einen performativen Charakter, denn Sprechen ist auch Handeln: es verkörpert Welten, anstatt sie nur zu repräsentieren. Über die sprachlichen Handlungsvollzüge Erzählen, Lesen und Bewegen (Performance) eröffnen sich die imaginären und performativen Text- bzw. Rezeptionsräume beim Poetry Slam. Sie werden durch die aktive Rezeptionshaltung der Zuhörer aufgeladen, angeeignet und mittels (nonverbaler sowie verbaler) Rückwirkungen auf die Performer mitgestaltet. Auch die Atmosphäre einer Aufführung (bzw. eines Slam-Abends) ist für die Hervorbringung von Räumlichkeit verantwortlich. Dabei ist es sicher nicht allein das Publikum, welches die Atmosphäre hervorbringt, sondern das Zusammenspiel von Menschen, Objekten, Gerüchen, Lauten, Ereignissen etc. Doch da sich zumindest die anthropologischen Räume durch die Gefühlslage der Subjekte verändern, wird die Atmosphäre beim Slam in starkem Maße vom Publikum bestimmt und kann durch den MC gut begleitet werden. Slammer erschaffen verschiedene Räumlichkeiten über ihren phänomenalen Leib – mit Techniken und Praktiken der gesprochenen, geschriebenen und verkörperten Sprache. Gleichzeitig wirken die Räume ihrerseits auf alle Akteure zurück. Das folgende Kapitel wird sich nun diesen Techniken und den dazugehörigen medialen Wirkungen widmen.
Andreas Hundacker wurde 1988 in Wolfsburg geboren und studierte Medienwissenschaften und Kunstwissenschaft an der HBK (Hochschule für Bildende Künste) sowie der TU in Braunschweig. Seit 2008 ist er Poetry Slammer und Autor. Außerdem veranstaltet und moderiert er neben Poetry Slams auch Schul-Workshops und Jugendfreizeiten. Zurzeit lebt er in Berlin und liebäugelt mit der der Medienpädagogik.