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- Jagen oder gejagt werden? Beziehungsanalyse und Darstellung der psychischen Dynamik der Liebe
Geisteswissenschaften
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Verlag:
Bachelor + Master Publishing
Imprint der Bedey & Thoms Media GmbH
Hermannstal 119 k, D-22119 Hamburg
E-Mail: info@diplomica.de
Erscheinungsdatum: 09.2011
AuflagenNr.: 1
Seiten: 56
Sprache: Deutsch
Einband: Paperback
Das vorliegende Werk befasst sich mit Martin Walsers Roman Jagd, erschienen 1988, und untersucht die darin beschriebenen zwischenmenschlichen Beziehungen mit Fokus auf die Dynamik der Paarbindungen. Martin Walsers Roman Jagd ist der mittlere Roman aus der Trilogie um die Familie Zürn. Ihm voraus ging 1980 Das Schwanenhaus und bedeutend später folgte Der Augenblick der Liebe im Jahr 2004. Er beschreibt einige Tage aus dem Leben des Immobilienmaklers Gottlieb Zürn und die Begegnungen mit seinen Mitmenschen in diesem Zeitraum. Im Handlungsverlauf wechselt der Protagonist immer wieder die Rolle zwischen Jäger und Gejagtem. Der Handlungsschwerpunkt in Walsers Roman Jagd liegt in der gegengeschlechtlichen Interaktion, aber auch der damit verbundenen individuellen Entwicklung des Protagonisten Gottlieb Zürn. In ihrer Analyse geht die Autorin daher von einem psychologischen Deutungsansatz aus, mit dem sie den Figuren entgegentritt. Sie untersucht die situationsbezogenen Verhaltensmuster, wobei im Vordergrund die Paarbeziehung, bzw. die sexuelle Anziehung stehen. Rohland folgt dabei dem tiefen Innenblick, den Walser dem Leser vorgibt um das Gefühlsleben der Charaktere zum Ausdruck zu bringen. Dabei zieht sie vor allem den Psychoanalytiker und Paartherapeuten Wolfgang Schmidbauer zu Rate. Auch ist bedeutend, welche psychischen Zustände der Protagonist durchlebt, auf deren Hinblick das männliche Wesen zu analysieren versucht wird. Literaturwissenschaftlich wurde der Roman bisher kaum untersucht, bietet aber aufgrund seiner intensiven Darstellung der geschlechtlichen Beziehungen ausreichend Untersuchungsstoff. Das vorliegende Werk nimmt diesen Ansatz auf und bietet so neue Forschungsanstöße.
Textprobe: Kapitel 2, Anna Zürn: 2.1, Charakterdarstellung: Anna Zürn, und sie wird im gesamten Roman immer nur Anna genannt, begegnet uns zuerst mit ihrer Liebe und Hingabe zu den Blumen. Sie widmet sich ihrem Garten jeden Tag für ein paar Stunden und lässt ihn von April bis November erblühen. Dieser prachtvolle Garten ist es, der das Haus umschließt. Es scheint, als wäre dies ein Sinnbild für die Liebe und Fürsorge, mit der sie sich auch um die Familie und die Geschäfte kümmert. In dem gemeinsamen Immobilienunternehmen hat sie den Verkauf der Objekte übernommen und ist dabei sogar erfolgreicher, als ihr Ehemann zuvor. Ihr Vorgehen ist dabei immer kundengerecht. Sie würde nie ein Haus an eine Familie verkaufen, das nicht zu ihnen ‘[…] finanziell, psychologisch, biologisch, sozilogisch’ passt. Sie hat die Baubiologie für sich entdeckt und ‘[…] als ihre Überlegenheit offenbar geworden war, in Einsiedeln einen Kurs im Pendeln gemacht’. Auch hiermit zeigt sich ihre Verbundenheit zu der Natur. In dieser Hinsicht hat sie ihr Gespür für die Bedürfnisse anderer in ihren Beruf hineingetragen. Eine äußerliche Beschreibung von Anna ist nicht gegeben. Sie wirkt zwar auf Gottlieb durchaus anziehend, doch es werden keine Details genannt. Dies wird wohl darauf zurückzuführen sein, dass es sich um Gottliebs Ehefrau handelt, die er jeden Tag sieht und die er in- und auswendig kennt. Wir erfahren jedoch, dass sie 48 Jahre alt ist. Sie ist eine selbstständige, starke Frau, die nicht nur ihr berufliches Vorankommen, sondern auch das Familienleben und die alltäglichen Pflichten im Haushalt bewerkstelligt. Anna organisiert dabei alles bewusst, um die Herausforderungen meistern zu können. Es wird allerdings deutlich, dass sie mit den vielen verschiedenen Aufgaben überfordert ist. Hiermit stellt sich die Frage, ob Anna ein Opfer der Emanzipation ist. Sie hat das Immobiliengeschäft zur Hälfte übernommen, wobei nach Gottliebs Darstellung der Verkauf noch die aufwändigere Tätigkeit ist. Zudem kümmert sie sich um das Haus, die Feriengäste und hält die Familie zusammen. Sie ist demnach eine emanzipierte Frau und hat sich von der traditionellen Rollenvorstellung gelöst. Doch wie viele Frauenaufgaben hat Gottlieb übernommen? Ihr Mann ist mit all diesen Angelegenheiten überfordert und zieht sich still zurück. Er bietet Anna keinen Halt mehr, ‘sie wisse ja, daß sie keine Hilfe habe, daß hier niemand begreife, was sie mache … Es ging oft um Hauswirtschaftliches, das ihr, weil sie soviel außer Haus zu tun hatte, durch Gottlieb und die Kinder hätte erleichtert werden müssen.’. Besonders deutlich wird dies in den Auseinandersetzungen mit ihrer Tochter Julia, die sie ebenfalls alleine lösen muss. ‘Und Anna hatte ebenso oft und laut geschrien, daß sie keine Hilfe habe, daß sie es nicht mehr aushalte, daß sie so nicht mehr weiterleben wolle.’. Hier tritt Anna als eine sensible Frau hervor, die sich von ihrer Familie, insbesondere Gottlieb, allein gelassen fühlt. Ihre Verzweiflung wird sichtbar, obwohl sie jeden Tag aufs Neue kämpft. Es mag diese Verzweiflung sein, die uns keinen Eindruck ihrer Lebensfreude erlaubt. Eine mögliche Gefahr einer solch misslungenen Emanzipation mag sein, dass sie sich selbst nicht mehr bewusst als Frau wahrnimmt. Gottlieb findet seine Frau sexuell anziehend, doch ‘Anna begriff offenbar überhaupt nicht, wie sie wirkte. In der vollen Morgensonne, nackt in ihrem schwarzdurchsichtigen Nachthemd.’. Die Ursache ist, dass sich die übernommenen männlichen Rollenelemente nicht mit der weiblichen Identität vereinbaren lassen. Ich orientiere mich hier an der Auffassung von Wolfgang Schmidbauer, wonach Identität eine Emanzipation nach innen ist, die ein Gefühl der inneren Kontinuität und des Eins-sein mit sich bedeutet. Es ist ein Bewusstsein für die eigene Persönlichkeit und die sozialen Rollen, in denen sich die Persönlichkeit selbst verwirklicht. Anna ist Mutter, Ehefrau, Hausfrau und zugleich eine erfolgreiche Immobilienmaklerin. Ihr Ehegatte sollte sie entlasten, ihr Hilfestellung geben und sich die Aufgaben mit ihr teilen, doch ‘[…] Gottliebs Lieblingstätigkeit, so zu sitzen. Nichtstun war seine Lieblingstätigkeit.’. Und Anna ist demgegenüber machtlos. Ihr wird die Gartenarbeit auch so am Herzen liegen, da sie hier ungestört ihrer Leidenschaft nachgehen kann und somit mehr als nur einen Ausgleich zum Alltagsstress bietet. Ihre Blumenliebe grenzt sich auch deutlich von Gottliebs Wesenszügen ab und zeigt auf, worin sich die beiden im Alltag unterscheiden. Der Garten bietet ihr eine Möglichkeit, ihre weibliche Seite ausleben zu können. Eine Parallelität ist hier verborgen, denn Blumen gelten als feminine Lebewesen in deren Empfindsamkeit sich Anna einfühlt und ihren Bedürfnissen nachkommt. Aber auch hier zeigt sich bereits Annas Bestreben alles zu Organisieren und zu Lenken, ‘Dann gibt Anna dem Mohn den Einsatz für ein kurzes, aber schmachtendes Gastspiel. […] Die blaue Siedlung Rittersporn wird aufgerufen, die Lupinen entzündet, die Königskerze errichtet, und endlich wird den Lilien der Einsatz gegeben, […].’. Hier weiß Anna ihre Ordnungsbestimmtheit mit den Bedürfnissen ihrer Außenwelt zu vereinen und zaubert so jedes Jahr ein Blumenparadies. In der Familie und der Ehe ist ihr Einfühlungsvermögen jedoch nicht mehr wiederzufinden. Auch schadet hier ihr Bestreben nach Kontrolle dem Zusammenleben. Sie eignet sich mit Selbstverständlichkeit das Leben der Anderen an, wie sie es auch tut nachdem Tochter Julia verschwunden ist und sie in Sorge ihre privaten Sachen durchsucht. Zu groß scheinen die Belastung und die damit verbundene Frustration über die mangelnde Entlastung zu sein um sich noch die Bedürfnisse der anderen Familienmitglieder vor Augen zu führen. 2.2, Das Eheleben Anna und Gottliebs – Rollentausch als misslungene Konfliktlösung: Anna und Gottlieb sind gegensätzliche Charaktere, was aus psychologischer Betrachtung eine logische Schlussfolgerung in sich trägt. Man trifft die Partnerwahl nach einem Ideal, nach dem was man selbst nicht ist, nicht sein kann. Die Bildung von Idealen ist ein psychologisches Grundmuster, das bereits in unserer Kindheit aufgebaut wird und notwendig ist, um eine stabile Persönlichkeit entwickelt zu können. Wir tragen Ideale unserer Partner- und Beziehungsvorstellungen in uns und übertragen diese auf die Wirklichkeit. Eine Beziehungskriese bedeutet immer auch, dass die Idealisierung nicht mehr mit der Realität vereinbar ist. Gottliebs negative Entwicklung, die der Erzählung im Roman selbst vorausgeht, aber immer wieder angedeutet wird, könnte Annas Idealbild getrübt haben. Es geht aber auch darum die Rollenerwartungen des anderen zu erfüllen, wobei die damit unvereinbaren Teile auffallen und abgelehnt werden. Gottlieb ist kein bestimmender Ehemann und Vater, er überlässt diese Angelegenheiten gerne seiner Frau. Er baut auf Anna und ihre Stärke, es ist ‘[…] eine Hingezogenheit, eine Abhängigkeit, eine Hörigkeit. Die Entfernung die durch Annas Verhalten zwischen ihnen entstanden war, fühlte er als eine Sehnsucht, die in Feindseligkeit umschlagen wollte.’. An der immer wieder gewählten Vergangenheitsform lässt sich erkennen, dass dieser Entwicklungsprozess zwischen den beiden bereits abgeschlossen ist. Auch das Erwachsenwerden der Kinder führt zu einer Veränderung der Gesamtsituation im Familienleben. Gottlieb und Anna müssen ihre Beziehung neu organisieren, jetzt wo die Kinder nicht mehr als Bedürfnisträger fungieren. Der Rollentausch kann eine Folge dieser Neuordnung sein, scheitert aber in sich, da die Probleme nicht gelöst werden. Gottlieb ist also Anna in jeder Hinsicht untergeordnet und dies wird auch hier auf der emotionalen Ebene ausgedrückt. Daraus lässt sich erneut die misslungene Emanzipation ableiten. Oft wird die Beziehungsform einfach beibehalten und nur die Rollenverhältnisse gewechselt. Die Position des Unterdrückers und des Unterdrückten werden nur vertauscht. Es kommt letztlich zu einer Rivalität zwischen dem Mann und der Frau um die aktive Rolle. Gottlieb versucht in der Sexualität den aktiven Part zu übernehmen, indem er immer wieder die Nähe sucht und Anspielungen macht. So auch, als er seine Frau in einer erotischen Pose fotografieren möchte, doch ‘ [d]a sie ihm den Apparat verbot, sollte sie sich sein Interesse eben unverhüllt gefallen lassen. Sie bemerkte, worauf dies zutrieb. Er bemerkte, daß sie es bemerkte. Stand eine Machtprobe bevor?’. Zwar ist Gottlieb von Anna abhängig, doch wünscht er sich auch die Möglichkeit, Nähe und Liebe nach seinen Bedürfnissen ausleben zu können. Sie lässt dies aus Mangel an Einfühlungsvermögen nicht zu, und verhindert es, ihr näher zu kommen. Sie beschäftigt sich weiterhin mit ihren Blumen und nutzt diese, um sich von Gottlieb abzuschirmen. Die Ansprüche des Partners sind oft schwer zu erkennen, wenn sie nicht sexueller Natur sind. Zu den Urbedürfnissen zählen auch ‘kindliche Wünsche nach Halt, nach Verschmelzung mit etwas Höherem’, die sich oft hinter sexuellen Bedürfnisausdrücken verbergen. Diese erkennt Anna nicht hinter Gottliebs Annäherungsversuchen.
Regina Rohland, geboren 1985 in Leverkusen, hat ihr Studium zum Bachelor of Arts in Germanistik und Philosophie an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf abgeschlossen. Während ihres Studiums befasste sich die Autorin eingehend mit den verschiedensten Werken Martin Walsers, sowie der Untersuchung dargestellter Paarbeziehungen im literarischen Kontext. Die dadurch gesammelten Erfahrungen ließ Rohland in der Analyse des Walser Romans Jagd einfließen und geht mit einem psychologischen Deutungsansatz vor.