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- Ehre als Thema im Ethikunterricht: Ein komplexes soziales Phänomen jenseits von Stereotypen
Geisteswissenschaften
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Verlag:
Bachelor + Master Publishing
Imprint der Bedey & Thoms Media GmbH
Hermannstal 119 k, D-22119 Hamburg
E-Mail: info@diplomica.de
Erscheinungsdatum: 07.2014
AuflagenNr.: 1
Seiten: 80
Abb.: 11
Sprache: Deutsch
Einband: Paperback
Der Begriff der Ehre weckt widersprüchliche Assoziationen. Auf der einen Seite stehen Bilder von öffentlichen Ehrungen, ehrenwerten Damen und Herren und herausragenden Persönlichkeiten, auf der anderen solche von Ehrenmördern und unterdrückte Frauen. Mit der Ehre sind Hoch- und Geringschätzung zugleich verbunden, je nachdem, um welche Personengruppe es sich handelt. Der Autor geht in dieser Arbeit der Frage nach, wie es zu diesem Widerspruch kommt und macht praktische Vorschläge, wie das Thema Ehre im Ethikunterricht behandelt werden könnte.
Textprobe: Kapitel 2, Warum Ehre unterrichten? : ‘Warum Ehre für die Ethik bedeutsam ist, wird deutlich, wenn wir uns den Zusammenhang zwischen Ehre und Achtung oder Respekt vor Augen führen. Denn Achtung und Selbstachtung sind zweifellos gleichfalls ein wichtiges menschliches Gut, das ... zu einem guten Leben beiträgt.’ Warum sollte sich Ethikunterricht mit dem Thema Ehre beschäftigen? Ist Ehre nicht ein Wert, der längst vergangenen, ‘vormodernen’ Zeiten angehört? Sollte bestehenden Identifikationen mit dem Wert der Ehre nicht mit der Beförderung liberaler Werte begegnet werden? Ich möchte argumentieren, dass Ehre eine aktuelle Relevanz hat – und zwar nicht nur unter Minderheitenangehörigen – und deshalb im Ethikunterricht thematisiert werden sollte. 2.1, Einordnung in den Rahmenlehrplan: Das Thema Ehre berührt viele ethische Fragestellungen und kann auf fast alle Themenbereich die im Berliner Rahmenlehrplan für das Fach Ethik genannt werden, angewendet werden. Ehre hat Etwas mit Identität (Themenfeld 1) zu tun, denn durch die Identifizierung mit individuellen und kollektiven Normen ehrenhaften Verhaltens erwirbt das Individuum seine Identität. Ehre ist eine Schnittstelle von Freiheit und Verantwortung (TF 2), denn diese Normen können das Individuum zu Handlungen für die Gemeinschaft veranlassen, aber auch zu sozial nicht akzeptiertem Verhalten. Das Individuum sieht sich zugleich den Anforderungen ehrenhaften Verhaltens, die eher durch sein soziales Umfeld repräsentiert werden, und die Normen des Rechts und der Gerechtigkeit (TF 3), die von staatlichen Institutionen eingefordert werden, wobei sich diese Normen manchmal widersprechen. Ehre hat auch mit Diskriminierung (TF 4, Mensch und Gemeinschaft) zu tun, denn Menschen, die sich mit dem Wert der Ehre identifizieren, sind Objekt gesellschaftlicher Stigmatisierung. Da die Normen ehrenhaften Verhaltens oft internalisiert sind, ist eine Normverletzung häufig mit dem Gefühl von Schuld und schlechtem Gewissen (TF 5, Pflicht und Gewissen) verbunden. 2.2, Ziele moralischer Bildung: Der Ethikunterricht ist eine spezifische Form moralischer Bildung innerhalb liberal-pluralistischer Gesellschaften. In liberalen Gesellschaften ist die Schule einerseits liberalen Werten (Freiheit, Gleichheit, Autonomie, Gerechtigkeit), andererseits dem Gebot des Pluralismus und der weltanschaulichen Neutralität verpflichtet. Ethikunterricht versucht, die Gratwanderung zwischen der Vermittlung liberaler Werte und der weltanschaulichen Neutralität zu gehen. Oft wurde dem Ethikunterricht die Aufgabe zugewiesen, Jugendliche durch Werteerziehung auf die Partizipation an der demokratischen Gesellschaft vorzubereiten, welche auf reflektierte Staatsbürger_innen, die kompetent mit gesellschaftlicher Vielfalt umgehen, angewiesen ist. Diese Forderung wurde jedoch von mehreren Seiten kritisiert. Multikulturalist_innen und Kommunitarist_innen kritisieren, dass die Beförderung liberaler Werte, wie Freiheit und Autonomie, welche substanzielle ethische Prämissen darstellen und alles andere als weltanschaulich neutral seien, die kulturelle Identität von religiösen und ethnischen Minderheiten gefährde. oft berufen sie sich dabei auf die Kritik an John Rawls, dass auch der ‘regulierende Rahmen’ liberaler Werte, innerhalb dessen Individuen ihre comprehensive doctrines of the good verfolgen, substanzielle (comprehensive) normative Setzungen enthalten, die nicht universalisierbar seien, etwa die Annahme, dass Güter individuell, nicht kollektiv verankert seien. Aber auch von liberaler Seite wurde die Forderung, Ethikunterricht solle liberale Werte vermitteln, kritisiert. Kirsten Meyer kritisiert, dass die Forderung nach der Vermittlung liberaler Werte nur in Bezug auf diejenigen Werte gilt, die nicht vernünftigerweise umstritten sind, z.B. sich nicht gegenseitig zu verletzen. Viele andere Werte seien jedoch in der Moralphilosophie umstritten, weshalb sich moralische Bildung nicht auf eine Position festlegen könne. Sie sieht den spezifischen Beitrag, den der Ethikunterricht zur schulischen Bildung leisten kann darin, ‘die Fähigkeit (zu) befördern, über grundlegende moralische Normen und Werte zu reflektieren und dadurch vernünftiger miteinander reden und umgehen zu können’. Wenn dieser Argumentation zugestimmt wird, dann darf sich der Ethikunterricht nicht nur auf aus Sicht der liberalen Gesellschaft vermeintlich beförderungswürdige Werte wie Gerechtigkeit, Autonomie und Toleranz beschränken. Es müssen alle normativen Einstellungen Berücksichtigung finden, die Schüler_innen wichtig sind. Ehre ist einer der Werte, die auf der einen Seite den Wertehorizont vieler Schüler_innen prägen, der auf der anderen Seite jedoch von liberaler Seite weitgehend als illiberal abgelehnt wird und daher in Debatten um moralische Bildung kaum Berücksichtigung findet. Wenn überhaupt, dann wird es zu ihrem Ziel erklärt, Jugendliche zur Abkehr von ‘traditionellen’ Wertvorstellungen zu bewegen, die sie an der Partizipation in der liberalen Gesellschaft hindern, zu denen Ehre gezählt wird. Wenn jedoch Ethikunterricht zur ergebnisoffenen Reflexion anregen soll, müssen auch mit der liberalen Wertordnung vermeintlich in Konflikt stehende Normen zum Unterrichtsthema werden. Ehre ist einer dieser Werte. Eine Auseinandersetzung mit ihr im Ethikunterricht kann Jugendlichen, ob sie den Wert der Ehre teilen oder nicht, zu ihrem besseren Verständnis verhelfen, indem aus Kommunikation und Austausch Empathie und ein Bewusstsein für Gemeinsamkeiten hervorgeht. 2.3, Gemeinsames und Trennendes: Ich möchte in dieser Arbeit zeigen, dass Ehre alle Menschen unabhängig von ihrer kulturellen Herkunft betrifft. Auch wenn nur eine Minderheit von Jugendlichen Ehre explizit zu ihren normativen Orientierungen zählt, ist das, was mit Ehre gemeint ist, ein soziales Phänomen, welches nicht nur Jugendliche mit Wurzeln in ‘traditionellen Gesellschaften’ betrifft. Auch wenn der Begriff der Ehre vor allem in Bezug auf Einwander_innen Verwendung findet, sind Fragen des Erwerbs von sozialem Status, des Aushandelns von Statusunterschieden und des Selbstwertgefühls, die noch bis ins 20. Jahrhundert unter dem Begriff Ehre subsumiert wurden, soziale Realitäten, die alle Menschen und Gesellschaften prägen. Die Auseinandersetzung mit dem Begriff der Ehre kann Jugendliche dazu anregen, über diese Fragen ins Gespräch zu kommen. Im Ethikunterricht geht es auch darum, den sozialen Umgang im eigenen sozialen Umfeld zu reflektieren. Für diesen spielen die Normen des Zusammenlebens sowie der Erwerb von Ansehen und Selbstwertgefühl eine wichtige Rolle. Der Begriff der Ehre hat, wie ich zeigen werde, viele Facetten. Jedoch bezeichnet er fast immer eine Eigenschaft, die durch an bestimmten Normen des Zusammenlebens orientiertes Verhalten erworben wird bzw. durch ihnen widersprechendes Verhalten verloren geht. Es ist damit geeignet, sich über Gemeinsames und Trennendes zugleich auszutauschen. Gemeinsam haben alle Individuen die Erfahrung, dass ihr Ansehen und in gewissem Maße auch ihr Selbstwert daran hängen, ob sie bestimmten Normen entsprechen können. Die eine Schülerin erwirbt z.B. einen guten Ruf, weil sie einem ungerechten Lehrer die Stirn bietet und sein Verhalten vor der Klasse kritisiert, die andere weil sie in der Pause heimlich raucht. Ein anderer Schüler hingegen hat zwar keinen guten Ruf, denn er wird als Streber bezeichnet, erwirbt jedoch durch seine schulischen Erfolge und Auszeichnungen bei Olympiaden ein hohes Selbstwertgefühl. Das Trennende der Ehre besteht darin, dass in unterschiedlichen sozialen Kontexten unterschiedliche Normen ehrenhaften Verhaltens Geltung haben. Die eine Schülerin wird dafür bewundert, dass sie sich für eine gerechte Behandlung von Schüler_innen einsetzt, die andere für ihr delinquentes Verhalten. Der Schüler dagegen verletzt zwar die Norm der jugendlichen Coolness, sich schulisch nicht zu sehr hervorzutun, um nicht als Streber zu gelten, erfüllt hingegen seine individuelle Norm, nach der schulische Erfolge etwas Ehrenvolles sind. Mit dem Begriff der Ehre ist Gemeinsames und Trennendes verbunden. Es kann eine universale und eine partikulare Dimension von Ehre unterschieden werden. Anhand des Begriffs können Schüler_innen im Ethikunterricht zum Austausch und zur Reflexion über gemeinsame Erfahrungen und solche, die uns trennen, anregen. Im Ergebnis ist ein in Bezug auf andere stärkere Empathie zu erwarten, die auf der Einsicht beruht, dass auch sie mit ähnlichen Herausforderungen konfrontiert sind, die jedoch auch deutliche Unterschiede von den eigenen aufweisen. Außerdem kann die Reflexion darüber, welchen Stellenwert Ehre für die Schüler_innen selbst hat und was sie darunter verstehen, dazu beitragen, dass sie ihre eigenen Ansichten kritisch hinterfragen. 2.4, Stigma Ehre: Wie bereits erwähnt, ist Ehre nicht nur positiv besetzt. Während Ehre einerseits als eine Auszeichnung betrachtet wird, die herausragenden Persönlichkeiten zu teil wird, wird Ehre andererseits mit Gewalt gegen Frauen und die Unterordnung des Einzelnen unter die Familienehre in Verbindung gebracht. Ehre in letzterer Hinsicht ist Gegenstand von Stigmatisierung, so dass ‘Kulturen der Ehre’ gegenüber der ‘modernen’ Gesellschaft abgewertet werden, indem Ehre auf die Unterordnung des Individuums unter die Gruppe, unmoralische Einstellungen und Gewalt reduziert wird. So erfahren Schüler_innen, in deren Wertehorizont der Begriff der Ehre einen wichtigen Stellenwert einnimmt, die Abwertung ihrer Wertorientierungen durch die Mehrheitsgesellschaft. Eine Beschäftigung mit Ehre im Ethikunterricht sollte aus zwei Gründen vermeiden, das Stereotyp ‘traditioneller Ehre’ zu reproduzieren. Erstens verstellt es den Blick auf die Vielfalt der sozialen Praxen, die sich, wie ich zeigen werde, hinter dem Begriff Ehre verbergen. Zweitens kann das oben formulierte Ziel moralischer Bildung die Reflexion über eigene Wertorientierungen nur dann erreicht werden, wenn Jugendliche nicht von vornherein das Gefühl vermittelt bekommen, ihre normativen Orientierungen seien minderwertig. Werden die Werte von Schüler_innen pauschal abgewertet, so kann dies Auswirkungen auf ihren Selbstwert haben. Erst ein Klima der ergebnisoffenen Reflexion, wo das Festhalten an eigenen Werten auch auf einer reflektierten Basis nicht ausgeschlossen ist, kann eine ernsthafte Auseinandersetzung mit eigenen Werten ermöglichen. Darüber hinaus kann am Begriff der Ehre auch ein Verständnis dafür vermittelt werden, dass Werte in eine hierarchische Ordnung eingebettet sind. Liberale Werte werden oft als anderen Werten, wie z.B. der Ehre, der Keuschheit oder der Frommheit gegenüber überlegen angesehen. Gerade Werte, die in afrikanischen und nahöstlichen Gesellschaften verbreitet sind, sind Gegenstand von Stigmatisierung und Abwertung. Am Beispiel der Ehre können Schüler_innen ein besseres Verständnis für rassistische und orientalistische Diskurse in der Diskussion um Werte erwerben. Die Tatsachen, dass Ehre erstens viele ethische Fragestellungen berührt, die im Ethikunterricht thematisiert werden, dass sie zweitens ein Wert ist, der für viele Schüler_innen wichtig ist, drittens ein wichtiges Analysekonzept für das Verhältnis zwischen Individuum und Gruppe darstellt und viertens Gegenstand gesellschaftlicher Stigmatisierung ist, von der auch Schüler_innen betroffen sind, spricht dafür, Ehre im Ethikunterricht zu behandeln.
Felix Mayer ist angehender Lehrer in den Fächern Ethik und Sozialkunde. Im Rahmen seines Studiums der Philosophie und Politikwissenschaft an der Universität Regensburg, der Marmara-Universität Istanbul, der Humboldt-Universität sowie der Freien Universität Berlin sind mehrere Veröffentlichungen entstanden. Inhaltlich geht es dabei um Fragen der Ethik, der multikulturellen Gesellschaft und interkultureller Pädagogik. Neben seinen Studieninhalten waren auch seine Studien- und Arbeitsaufenthalte in der Türkei, seine pädagogischen Erfahrungen an verschiedenen Schulen in Berlin und in Balikesir, Türkei, sowie sein Engagement bei einem Berliner Mentoring-Projekt prägend für den Autor und stellen einen wichtigen Einflussfaktor für seine bisherigen wissenschaftlichen Veröffentlichungen dar.