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- "Du hungerst noch immer?" Zur poetischen Funktion des Hungerns an ausgewählten Beispielen
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Verlag:
Bachelor + Master Publishing
Imprint der Bedey & Thoms Media GmbH
Hermannstal 119 k, D-22119 Hamburg
E-Mail: info@diplomica.de
Erscheinungsdatum: 03.2014
AuflagenNr.: 1
Seiten: 84
Sprache: Deutsch
Einband: Paperback
‚Zwölf Kilo in sechs Wochen‘, ‚Nie wieder XXL‘ oder ‚Nun purzeln die Pfunde‘ lauten die Schlagwörter zahlloser Diätratgeber. In Rezeptheften, Sportzeitschriften, Frauenmagazinen und in unüberschaubar vielen Internetforen erteilen sie Tipps und Tricks, wie Frau und auch Mann am besten, schnellsten und unkompliziertesten zum Wunschgewicht und der Traumfigur gelangen. Ein Geheimnis verraten sie dabei jedoch nicht: Das wesentlichste Kampfmittel gegen Übergewicht ist das Hungern. Der (selektive) Verzicht auf Nahrungsmittel soll möglichst nahe an das in den Medien dauerpräsente schlanke Körperideal bringen, das mit Gesundheit, Willenskraft, Disziplin, Intelligenz etc. assoziiert wird. Die Erscheinung eines dünnen Körpers kann jedoch noch eine ganz andere Assoziation erwecken. Ein magerer Körper ist möglicherweise Ausdruck einer Essstörung, vornehmlich der Anorexia nervosa. Die Anzahl der Diagnosen hat sich in den Wohlfahrtsstaaten der westlichen Industrieländer seit den 1970er Jahren stetig vergrößert. Die Betroffenen leiden nicht am Hunger, sondern am Essen, das sie möglichst vermeiden wollen. Der Verzicht auf Essen ist immer eine Art der Auflehnung gegen den eigenen Körper und gegen eine durch Essen sozialisierte, organisierte, und gruppierte Gesellschaft. Aufgrund dieser Bedeutungsdimension ist das freiwillige Hungern ein attraktives Thema für die Literatur. Wie die poetische Literatur den voluntaristischen Nahrungsverzicht verarbeitet und welche Funktionen er einnimmt, soll in dieser Arbeit untersucht werden. Ziel ist es, zu prüfen, ob diese Thematik in verschiedenen Texten mit ähnlichen Merkmalen hinsichtlich der Hauptfigur und der formalen Gestaltung der Texte zusammenhängt. Hinzukommend soll in der vorliegenden Arbeit herausgefunden werden, ob mithilfe des freiwilligen Hungerns Ansichten über die Kunst und eine gesellschaftskritische Auffassung transportiert werden. Die poetischen Funktionen des freiwilligen Hungerns werden anhand der Texte Hunger von Knut Hamsun und Ein Hungerkünstler von Franz Kafka untersucht.
Textprobe: Kapitel 2.1.3, Das gesellschaftskritische Potenzial des Motivs Hungern: Bisher habe ich textinterne Elemente, wie die Figurendarstellung oder die Erzähltechnik, danach untersucht, inwiefern sie durch das Sujet des Textes, das Hungern, geformt sind. Nun will ich überprüfen, ob Informationen des Textes, die auf textexterne Sachverhalte Bezug nehmen, ebenfalls mit dem Thema Hungern in Verbindung stehen. Ich behaupte, dass das Hungern das Vehikel zur Vermittlung einer ablehnenden Haltung des Autors zu zeitgenössischen Bedingungen beziehungsweise Strömungen ist. Jedoch ist Hunger kein typisch sozialkritischer Roman. Zwar bedient sich Hamsun mit dem Sujet ‚Hungern‘ eines Motivs par excellence des Naturalismus, doch in Hunger wird es aus seiner ehemaligen Funktion der Vermittlung einer naturalistisch fundierten Gesellschaftskritik herausgelöst. Der Text ist keineswegs ein kritisches Manifest gegen Verelendung und Einsamkeit in der Großstadt. Dazu fehlt dem Buch eine Vorgeschichte, familiäre Hintergründe – die Hauptfigur hat nicht einmal einen Namen – sowie Begründungen für den psychischen Zustand des Hungernden. Hunger führt das Leiden der Hauptfigur nur vor, analysiert es aber nicht und gibt auch keinen Aufruf zur (politischen) Veränderung. Darüber hinaus wird die Schuld für das Fehlen finanzieller Mittel zur Beschaffung von Nahrung der Hauptfigur selbst zugesprochen beziehungsweise hungert sie sogar freiwillig. Von den Hungerschilderungen geht entsprechend keine Gesellschaftskritik im Sinne der Beanstandung politischer und sozialer Missstände aus. Versteht man Gesellschaftskritik jedoch als eine Reaktion auf zeitgenössische Gegebenheiten, die vom Autor als nachteilig für seine Literaturproduktion empfunden wurden, so hat der Text gewiss eine gesellschaftskritische Komponente. Diese ergibt sich sogar erst durch die Abkehr vom sozialkritischen Roman. In ihm wurde der Hunger noch als Motiv verwendet, um ein positivistisches Ursache-Wirkungs-Modell zwischen gesellschaftlichen Bedingungen und individuellem Leid aufzuzeigen. Hamsun knüpft mit seinem Buch einerseits an das naturalistische Motiv an und, so bewertet es Paul, verleiht seinem Text damit den Anschein positivistischer Glaubhaftigkeit. Andererseits ergründet er nicht die Ursachen, die zum Hunger führen, sondern die Auswirkungen, die der Hunger herbeiführt. Mithilfe der Auswirkungen des Nahrungsverzichts zeichnet er ein so gestörtes Bild einer Persönlichkeit, dass sie sich nicht erklären lässt. Obgleich der Leser alle Gedanken der Hauptfigur kennt, kann er ihn dennoch nicht begreifen, weil er das psychologisch Nachvollziehbare überschreitet. Nicht einmal psychische Krankheiten reichen zur Beschreibung aus. Hamsuns Kritik richtet sich folglich gegen ‘den pauschalen Anspruch einer wissenschaftlich untermauerten literarischen Objektivität’ sowie ‘gegen jene Lebensansichten, die versuchten, den Menschen als völlig rationale und erklärbare Wesenheit darzustellen [...]’. Er erteilt dem Positivismus und dessen Grundauffassung, alles auf objektive Tatsachen oder ein Ursache-Wirkungsmodell herunterbrechen zu können, eine Absage. Auch die positivistische Herangehensweise an Literatur, die darauf ausgerichtet war, Texte zu erklären, anstatt sie auszulegen, durchkreuzt er. In seiner Abkehr vom sozialkritischen Roman mit positivistischer Erklärbarkeit steckt neben der Kritik gleichzeitig der Aufruf zur Neuausrichtung der Literatur. Sie soll sich mehr mit der Psychologie des Menschen und seinen irrationalen Tendenzen beschäftigen. Denn Hamsun wollte eine Literatur, die mehr von individuellen Fällen und weniger von Typen erzählt, die ‘das ganze unbewusste Seelenleben’ ergründet. Das hielt er auch in seinem Literaturprogramm ‚vom unbewussten Seelenleben‘ fest, das er zeitlich parallel zu Hunger verfasste. Mit seinen Texten wollte sich Hamsun nicht der Wissenschaft als der ‘einzig totale[n] Macht der Zeit’ beugen. Sein Ziel war es, mithilfe poetischer Texte zu demonstrieren, dass der Mensch – so beschreibt es Daniel Kehlmann – ‘komplexer ist und rätselhafter, als die guten Absichten, die Aufklärer und die Kämpfer für eine bessere Welt es sich vorstellen können’. Die Funktionalisierung des Hungerns hat in diesem Abschnitt eine neue Dimension erhalten. Das Hungern ist der Stoff, mit dem der Autor seine gesellschaftskritischen Anmerkungen transportiert. Diese gelten jedoch nicht, wie angesichts des Sujets des Textes zu erwarten wäre, den sozialen und politischen Zuständen, die zur schlimmen Situation des Protagonisten führen. Stattdessen zielt die Kritik auf das Verfahren ab, bestimmte menschliche Zustände auf gesellschaftliche Faktoren zurückzuführen. Indem Hamsun das Hungern zum Motor schier unbegreiflicher Bewusstseinsregungen utilisiert, bringt er die Wissenschaft an seinem Buch zum Scheitern.