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- Das Motiv der Verwandlung in der modernen Literatur: Von Kafkas Käfer bis Ibsens Puppenheim
Geisteswissenschaften
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Verlag:
Bachelor + Master Publishing
Imprint der Bedey & Thoms Media GmbH
Hermannstal 119 k, D-22119 Hamburg
E-Mail: info@diplomica.de
Erscheinungsdatum: 02.2013
AuflagenNr.: 1
Seiten: 56
Sprache: Deutsch
Einband: Paperback
Bei der Auseinandersetzung mit Verwandlungen jedweder Art befindet man sich scheinbar automatisch in einer Art Schwebezustand, in einer stetigen Pendelbewegung zwischen Faszination und Abscheu. Einerseits lockt jenes vielseitige Phänomen mit seinem Facettenreichtum, dem Kitzel zur Grenzüberschreitung und dem Aufbruch zu neuen, unbekannten Seiten des Seins andererseits symbolisieren Metamorphosen auch eine Gefahr, gerade durch die Bedrohung und Veränderung des Bekannten, des Akzeptierten und der Konvention. Wie und warum behandeln die ausgewählten Werke von Franz Kafka, Carlos Ruiz Zafón, Henrik Ibsen, Max Frisch, Hermann Hesse und Hilde Domin das Motiv der Verwandlung? Welche Parallelen kann man, angesichts der Vielzahl literarischer Werke zu dieser Thematik, in der Auseinandersetzung mit dem Phänomen, der Darstellung des Vollzugs und der Art der Metamorphose ausfindig machen? Gibt es gewisse wiederkehrende Muster, die eine Metamorphose auslösen, provozieren oder aufhalten können? Wie wird das Phänomen dargestellt - als natürlicher Veränderungsprozess oder als abartiges Horrorszenario? Wie gehen die unterschiedlichen Protagonisten mit der neuen Situation um und wie reagiert ihr gesellschaftliches Umfeld auf die Transformation? Können daraus eventuell bestimmte Muster abgeleitet werden, die stellvertretend für alltäglichere Ereignisse stehen, deren wir uns im routinierten Alltag nicht bewusst sind? Werden Verwandlungen in der Literatur lediglich thematisch behandelt oder vollzieht sich nicht auch immer in jedem Text eine Art Metamorphose, die auf Autor, Leser und Figuren wirkt? Das vorliegende Buch bietet eine Antwort auf all diese Fragen.
Textprobe: Kapitel 3.2, AUSBRUCH DES IDENTITÄTSLOSEN: Verwandlungen in der Dramatik: 3.2.1, Die späte Einsicht der Nora von Henrik Ibsen: Die Wandlung der Nora Helmer von einem sprachlosen Püppchen zu einer sich selbst als Individuum erkennenden und freien Frau geschieht in einem Zeitraum von nur zwei Tagen und mit einer solchen Intensität, dass man keinesfalls von einer herkömmlichen Weiterentwicklung sprechen kann, sondern tatsächlich den starken Begriff der Verwandlung nutzen muss, um der Einzigartigkeit der dargestellten Ereignisse in ihrer Gänze gerecht zu werden. Man kann EIN PUPPENHEIM als Geschichte über eine ziemlich unreife Frau bezeichnen, die plötzlich aufwacht und ihre eheliche Stellung erkennt, die Lebenslüge erkennt, auf die sie ihr Leben aufgebaut hat. Mit dieser Einschätzung wird nicht nur die Komplexität der Handlung von Ibsens Drama unterschätzt, sondern zugleich, dem männlichen Blick Torvalds entsprechend, Noras Charakter dergestalt vereinfacht, dass man ihr ein Leben in völliger Naivität bis zu dem Punkt des plötzlichen Erwachens unterstellt. Dieser Interpretation kann, wenn überhaupt, nur auf einen ersten und sehr oberflächlichen Eindruck hin zugestimmt werden. Vielmehr handelt es sich bei Nora doch um eine durchaus reife und überlegt handelnde Person, die einzig durch die Sichtweise der Männer ihres Umfeldes auf sie, als naives Kindchen erscheint. Der Blick des Zuschauers beziehungsweise des Lesers folgt zu Beginn der Handlung der Meinung Helmers über seine Frau , die sich in stetiger Degradierung durch Tierkosenamen und Zweifel an Noras Fähigkeiten, vernünftig mit Geld umzugehen oder auf die Gesundheit ihrer Zähne zu achten, äußern. Dieser erste Eindruck wird verstärkt durch Noras perfekt inszeniertes Rollenspiel der ihr zugedachten Identität als tänzelndes, sprachloses Püppchen und Sexobjekt . Tatsächlich ist sich die Protagonistin des Stücks nämlich durchaus ihrer Rolle als gehorsames Frauchen bewusst und widersetzt sich an einigen Stellen sogar dem Willen ihres Ehemannes, wenn sie zum Beispiel Makronen isst oder die Wahrheit in tänzelnden Bewegungen verschleiert. So findet sich Nora de facto zwar nicht völlig mit der ihr zugedachten Funktion ab, ist aber ängstlich darauf bedacht, vor Helmer jede Eigenständigkeit zu verbergen, und eine solche Form der Anpassung verstärkt letztlich nur den Eindruck, hier werde ein Mensch zu einem passiven Objekt degradiert und deformiert. Doch mit der Aufdeckung von Noras Geheimnis gegenüber ihrer alten Freundin Frau Linde - ihre Schulden bei Krogstad, mit denen sie die lebensnotwendige Reise in den Süden für ihren Mann finanziert hat und schließlich die Unterschriftenfälschung des Vaters, um an das Geld gelangen zu können - verflüchtigt sich der erste Eindruck des passiven Objekts zunehmend. Über einen Zeitraum von mehreren Jahren hat Nora es geschafft, ihr Geheimnis vor allen, insbesondere vor Helmer zu beschützen, die Schulden stufenweise zu begleichen und weiterhin in der Rolle des sprachlosen Püppchens zu bleiben, ohne die Früchte des Verdienstes, der in der Gesundung des Ehemannes liegt, einzufordern. Dies beweist zum einen die Standhaftigkeit ihres Charakters sowie ihre Fähigkeit zum aktiven Handeln, und zum anderen manifestiert sich in diesen Handlungen Noras tiefer Glaube in die wahrhafte Liebe Helmers. […] primär eine weibliche Unbedingtheit von Liebe, der Liebe nämlich, aus der heraus Nora auch die Unterschrift ihres Vaters fälscht […] Unter der Hülle ihres Puppendaseins, trotz aller Erstarrung, ist Nora immer noch ungebrochen sinnliches Wesen, hat noch unentstellte Triebregungen, Neigungen, Gefühle samt deren Erkenntnismöglichkeiten […] Diese Unbedingtheit von Liebe schreibt Nora ihrem Ehegatten zu und erträgt, auf diesen Glauben aufbauend, die Last ‚ihrer‘ Schulden und ‚seiner‘ Rollen bis zu dem Zeitpunkt, da sich die Idee der wunderbaren Liebe als Lügenkonstrukt erweist. Nora hätte eher Selbstmord begangen, als ihren Mann und ihre Kinder durch die Aufdeckung ihrer Schuld(en) in Unglück und soziale Degradation zu stürzen , doch Helmer erkennt weder das, noch den ehrhaften Charakter von Noras Handlungen und Verhalten. Seine Reaktion auf die Aufdeckung des Geheimnisses und kurz darauf auf die Entlastung durch die Rückgabe des Schuldscheines von Krogstad öffnet Nora schließlich die Augen. Mein ganzes Glück hast du vernichtet. Meine ganze Zukunft hast du verdorben. […] Und so jämmerlich muß ich sinken und zugrunde gehen wegen eines leichtsinnigen Weibes! […] Ich bin gerettet! Nora, ich bin gerettet! Nora muss nun nicht nur erkennen, dass sie ein frei verfügbares Objekt ohne feste Identität und eigenen Willen für Helmer ist, sondern zudem, dass sie lediglich ein Besitzstück für ihn darstellt, das er nicht wirklich liebt. Das ‚Wunderbare‘, die tiefe Liebe, die Bereitschaft, sich für den Partner aufzuopfern, wird Nora niemals von ihrem Ehemann erhalten und so beschließt sie, das einzige zu tun, was ihr richtig erscheint: ‘Den Maskenzug ablegen.’ Es folgt eine ‘Abrechnung’ , in der Nora offen darlegt, wie sie sich fühlt, was sie denkt und in der sie erstmals vor Helmer klar stellt, dass sie kein identitätsloses Püppchen ist, das sorgen- und gedankenlos durch die Welt tanzt. Fällt es dir nicht auf, daß wir beide, du und ich, Mann und Frau, heute zum erstenmal ernst miteinander reden? […] Es ist mir viel Unrecht zugefügt worden, Torvald. Erst von Papa und dann von dir. […] Ihr habt mich nie geliebt. […] Ich lebte davon, daß ich dir Kunststücke vormachte, Torvald. Aber du wolltest es ja so. Du und Papa, ihr begingt eine große Sünde gegen mich. Ihr seid schuld, daß nichts aus mir geworden ist. […] Nein, glücklich bin ich nie gewesen. Ich glaubte es, aber ich war es nie. Der einzige Ausweg für Nora besteht nun darin, ihre Familie zu verlassen, sich endlich von Helmer zu trennen und ein eigenes Leben mit einer vollständigen Identität, unabhängig von einer männlichen Autoritätsperson zu beginnen. Denn letztlich erkennt sie neben der gescheiterten Ehe auch die missliche Beziehung zu ihrem Vater, wenn sie sagt: ‘Ich war deine Puppenfrau, wie ich Papas Puppenkind war.’ Auslöser für Noras Verwandlung ist die (späte) Einsicht in die tatsächliche Beschaffenheit ihrer Ehe und ihrer Beziehung zu dem Vater. Sie opfert sich auf, würde alles für ihren Mann tun, so wie sie es früher für ihren Vater tat sie ergibt sich allen gesellschaftlichen Zwängen der patriarchalischen Welt und wird dennoch nicht geliebt oder zumindest ernst genommen. Die Aufdeckung der Unterschriftsfälschung und der Schulden ist notwendig, um Helmers wahres Wesen zu entlarven und Nora begreifbar zu machen, dass es ihm ‘immer nur um die bürgerliche Karriere zu tun gewesen ist und daß er an ihre Unterschriftsfälschung die verlogenen Maßstäbe bürgerlicher Doppelmoral legt.’ Das Rollenspiel muss aufhören und die wahre Identität muss entwickelt werden, denn Nora erkennt schon recht früh im Stück: ‘Ich kann nichts Passendes finden alles ist so albern, so nichtssagend.’ Wie tiefgreifend die Konsequenzen der jahrelangen Identitätsunterdrückung und des Rollenzwangs durch Vater und Ehemann sind, erkennt man jedoch erst gänzlich, wenn Nora sagt: Vor allem bin ich ein Mensch, glaube ich, ebenso wie du - oder wenigstens will ich versuchen, einer zu werden. […] Ich muß selbst über die Dinge nachdenken und mir darüber klarzuwerden suchen. Die Degradation durch Vater und väterlichen Ehemann hat einen gravierenden Zweifel in Noras Selbstbewusstsein nicht nur als Individuum, sondern gar als menschliches Wesen hinterlassen. Ihre Entscheidung, Helmer zu verlassen und ein eigenständiges Leben zu beginnen, ist somit eine längst überfällige Emanzipation von männlicher Autorität und Tyrannei. Obgleich sie nicht weiß, wohin der Weg sie führen wird, ist sie sich bewusst, dass sie sich vielen Hindernissen stellen muss, um sich letztlich von den Zwängen ihres bisherigen Lebens befreien zu können. Noras Verwandlung liegen keine psychologischen Erkrankungen zu Grunde . Es ist die Einsicht in das nutzlose Rollenspiel für einen Mann, der dies nicht zu würdigen weiß, weder durch Liebe noch durch Respekt. Diese Erkenntnis schließlich entfesselt […] die merkwürdige, dem innersten Lebenszentrum entspringende, vielleicht zu dämpfende, aber nicht zu brechende Kraft, mit der Nora schließlich alle Hemmung und Fremdbestimmtheit ihres Lebens überwindet. Noras Metamorphose ist kein Zusammenbruch, sondern der Ausbruch einer zum identitätslosen Objekt degradierten Person in die Autonomie. Der Figur werden ‘ungeheure Veränderungen in sehr kurzem Zeitraum zugemutet’ , Veränderungen, die als Symbol für die aufkommende Frauenbewegung gesehen werden können. Noras Entwicklung von der sprachlosen Puppe über die angsterfüllte, sich der Realität bewusst werdenden Tarantella-Tänzerin hin zu einer selbstbewussten und freien Frau kann als literarische Zusammenfassung und Wegweiser für die Emanzipation der Frauen gelesen werden: ‘eine elektrisierend kollektive Kraft, das Puppendasein, überhaupt den Panzer der über das Geschlecht verhängten Konventionen zu durchbrechen.’ Im Gegensatz zu den epischen Figuren Kafkas und Zafóns präsentiert Ibsen nicht das Endprodukt einer verwandelten Person, sondern ausschließlich den Verwandlungsprozess. Ursachen und Verlauf der Metamorphose werden hier detailiert dargestellt, aber es bleibt offen, wohin dieser Prozess die Protagonistin führen wird. Damit überlässt Ibsen dem Leser gänzlich die Bewertung der Ereignisse. Durch die Nichtdarstellung der folgenden Konsequenzen wird die Beurteilung der vollzogenen Verwandlung nicht dergestalt determiniert, sie als ausschließlich positiv oder ausschließlich negativ zu lesen. Da Noras weiterer Weg offen bleibt, eröffnen sich drei Möglichkeiten, die dem Leser unmittelbar bewusst sind und die die Wahrnehmung der Verwandlung ambivalent gestalten. Nora könnte sich tatsächlich emanzipieren und als freie, unabhängige Frau ihr Leben meistern sie könnte jedoch auch in die Abhängigkeit zu Helmer oder einem anderen Mann zurückfallen ebenso wie sie gänzlich scheitern und degradiert werden könnte. Noras Verwandlung erweist sich weder als Horrorszenario noch als natürlicher Veränderungsprozess. Ihre Einsicht und Emanzipation muss auf den zeitgenössischen Leser einer patriarchalischen Gesellschaft befremdlich, geradezu widernatürlich gewirkt haben. Dennoch ist Nora eindeutig der Sympathieträger des Stücks, weshalb ihre Metamorphose nicht abgelehnt, sondern bewundert wird. Sie entzieht sich dem aufgezwungenen männlichen Rollenzwang als Ergebnis eines Prozesses der Erkenntnis und Selbstbewusstseinswerdung.
Carolin Hildebrandt, B.A., wurde 1990 in Schmalkalden geboren. Ihr Studium der Literaturwissenschaft, Kunstgeschichte und Philosophie an der Justus-Liebig-Universität Gießen schloss die Autorin im Jahre 2011 mit dem akademischen Grad des Bachelor of Arts erfolgreich ab. Es folgte ein weiterführendes Studium für den Master of Arts mit einem literaturwissenschaftlichen Schwerpunkt an der Universität Erfurt.