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- Das Grauen im konstruierten Erzähltext: Zu E.T.A Hoffmanns „Nachtstücken“
Psychologie
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Verlag: Diplomica Verlag
Erscheinungsdatum: 10.2012
AuflagenNr.: 1
Seiten: 140
Sprache: Deutsch
Einband: Paperback
Das Unheimliche wird in dieser Untersucbung zu E.T.A Hoffmanns ‘Nachtstücken’ einmal als eines verstanden, das nicht nur in den Motiven und Themen, sondern vorwiegend in der hoffmannschen Poetik verankert ist. Von der Analyse soll keines der ‘Nachtstücke’ ausgeschlossen werden, die konsequente Einheit des Zyklus lässt sich an einer Untersuchung des Unheimlichen gleichsam en passant aufzeigen. Der Autor Hoffmann liefert selbst bezüglich des Fantastischen und Unheimlichen in seinen Erzählungen reiche poetologische Hinweise, meist in Form von Diskussionen fiktiver Freunde im Vorfeld oder Anschluss an eine Geschichte, welche sich weit aufschlussreicher als die Theorien über das literarische Fantastische anderer Autoren auf seine Erzähltexte anwenden lassen. Ausgehend von der Annahme, dass alleinig der Text einer Erzählung die schauerliche Wirkung übertragen und beim Leser entstehen lassen kann, soll darauf eine detaillierte textuelle Analyse, die jeweils bei den beiden von der Forschung am eklatantesten gemiedenen Novellen ‘Ignaz Denner’ und ‘Das Gelübde’ ansetzt, der Frage nachgehen, wo das Unheimliche im Erzähltext manifest wird, was genau uns denn in diesen Geschichten erschauern macht und welche sprachlichen Mittel der Zeit-, Figuren- und Raumgestaltung entscheidend dazu beitragen. Sicherlich trifft man dabei in allen ‘Nachtstücken’ auf grelle Schauerelemente. Sie drehen sich beständig um Wahnsinn, Selbstmord, Totschlag, Satanismus, Revenants, dunkle Schlösser, Automate, Trugbilder und geheimnisvolle, ‚magnetische’ Phänomene. Ihre wahrlich beängstigende Wirkung jedoch, das zeigt der dritte Teil der Untersuchung, entsteht im Wesentlichen durch die genannten Erzähltechniken - die perspektivische, den Leser in extremer Nähe zu den Figuren haltende Erzählweise, ein stetes, über Beglaubigungsstrategien bewirktes In-die-Irre-Führen desselben, durch Brüche, die bei gleichzeitiger Verrätselung und Illusionsaufrechterhaltung, die Ironie, die Gemachtheit und die Inszenierung der Erzählung offen legen sowie durch stets vieldeutige Enden, wo Fragen ungeklärt bleiben und die über Staunen und Schrecken auch nach dem Schliessen des Buchdeckels verunsichern, jegliche Vereindeutigung verweigern und den Leser somit im Unheimlichen zurücklassen. Die Erzähltexte der ‘Nachtstücke’ sind ein bewusst und berechnend inszeniertes Verwirrspiel, das über die Themen der Erzählungen, und, sich hierin bereits von der Romantik abhebend, stärker noch über die Sprache, in der es verfasst ist, laut wird und über das das Unheimliche, gleich einem Automat, eine Art Eigenleben erlangt, das gerade nur im Rahmen von Literatur und über besagte Erzähltechniken funktionieren kann. Hoffmann selbst ist gewissermassen Mechanicus, Automat-Fabrikant und gleicht den in unzähligen seiner Werke auftauchenden Charakteren, die für die Verführung der Protagonisten durch die von ihnen hergestellten Trugbilder und Maschinen-Menschen verantwortlich sind. Seinen Wunsch, selbst einmal ein Automat zu verfertigen, den Hoffmann seinem Tagebuch am 2.10.1803 einschreibt, wird er sich mit seinen literarischen Texten weit wirkungsvoller und langlebiger erfüllen, als es ein richtiger Automat je gewesen wäre.
Textprobe: Kapitel 3.2, Das gestaltlose Auftauchen des Unheimlichen im Heimischen: Der ein ‘beschwerliches, mühseliges, dürftiges Leben’ (46) führende Revierjäger Andres in ‘Ignaz Denner’ hört eines düsteren, stürmischen Tages unversehens, weil er den Knecht erst gegen Abend zurückerwartet, jemanden vor seiner Tür ‘daherschreiten’. Doch lesen wir diese erste Erscheinung des Unheimlichen in der Erzählung genau: ‘Da hörte Andres auf einmal es vor dem Hause daherschreiten, wie menschliche Fusstritte’. Die Fusstritte tönen ‚nur’ wie menschliche, genau genommen und gelesen müssten sie es nicht sein. Zusätzlich hört Andres diese Fusstritte sich nicht etwa aus der Ferne nähern, auf einmal, plötzlich sind sie da, vor seinem Haus. Wegen dem Gebell der Hunde vermutet er, dass es ‘ein Fremder’ ist und geht zur Tür. Kaum hat Andres erklärt, dass er dem Fremden, der bei Sturmwetter um etwas Erholung und Erquickung bittend vor der Türe seines ärmlichen, sich isoliert im Wald befindenden Forsthäuschens steht, nichts bieten könne ausser einem Stuhl - schon sind die beiden ‘unter diesen Worten [...] in die Stube getreten’ (48). Das Fremde und Unheimliche tritt hinein - in seine wörtliche Antinomie - das Heimliche, Vertraute und Bekannte - und dies ohne Warnung, mit einer unerhörten Schnelligkeit und einer unvergleichlich Besitz ergreifenden Aufdringlichkeit. ‘[...] ein verirrter Fremder, gütiges Herz, gefüllte Börse, und in einem Kistchen wundersame Arznei. - Ein Zufall?’, fragt sich auch Franz Fühmann und verneint sogleich, denn der Zufall ‘fügte sich schlecht in solche Geschichten, weil er sich schlecht ins Leben fügt.’ Und tatsächlich erfährt man als Leser, allerdings erst zu einem späteren Zeitpunkt, dass der Fremde wohlüberlegte Absichten hegt. Ohne explizite Erlaubnis von Andres erreicht er Einlass und unweigerlich nimmt das Unheil seinen Lauf: Andres kann kein weiteres Wort äussern, der Fremde legt seine Kleider, ein Kistchen und seine Waffen ab und ist bereits ans Bett der erkrankten Ehefrau Andres’, Giorgina, herangetreten - als wüsste er genau, was zu tun ist. Der Fremde hat den ersten Schritt hin zum Vertrauen unternommen, in der Folge nistet er sich ein, bleibt nach einer ersten Rettung Giorginas gleich über Nacht, ohne dass er bis hierhin auch nur seinen Namen preisgeben hätte. In der eigenen, heimeligen Wohnstube der Bürgermeisterfamilie offenbart sich das Unheimliche in der Erzählung ‘Das Gelübde’. Bereits kurz nach dem Eintreffen und der Einquartierung der ‘hohe[n] jugendlichen Gestalt mit dicht verhülltem Antlitz’ (281) wird der Hausfrau das Ganze immer ‘geheimnisvoller’ sie verspürt, als sie die Äbtissin und die verschleierte Dame belauscht, eine ‘Beklommenheit’ (282), die sie sprachlos werden lässt. Nach dem Abschied von der Äbtissin beobachtet sie wie der Gast einen der Schleier abnimmt und erblickt ‘-’. Das Erschaute ist zu ungeheuerlich um ausgesprochen werden zu können, mit dem Gedankenstrich stocken wir als Leser mit der Hausfrau und erfahren durch das Nachhaken ihres Gatten kaum Genaueres sich umsehend ‘als erblicke sie Gespenster’ bringt sie nur stammelnd hervor: ‘die Totenfarbe, ach die grauliche Totenfarbe’ (283). Spätestens ab hier wird dem Leser, wie in ‘Ignaz Denner’ parallel mit den literarischen Figuren, klar, dass die verhüllte Dame ein Geheimnis umgibt. Von ihrem Mann wird die Bürgermeisterin nur oberflächlich darüber informiert, dass die Dame auf Geheiss des Gönners Fürst Z. ihr erwartetes Kind heimlich und unbemerkt im Haus der Familie gebären soll. Indes empfinden die Bewohner das ‘Verhältnis mit der Fremden’ als ‘drückende[s]’ und ‘unheimliche[s]’ (287). Derart nichts ahnend ist die Familie im ‘Sandmann’ nicht, Nathanael merkt früh an Vaters Schweigen und der Mutter Traurigkeit, dass es wieder ein Abend ist, an dem der Sandmann ins Haus eindringt, wie er aufgrund einer Aussage der Mutter, die nur die Kinder ins Bett schicken will, zu glauben beginnt. Noch nie hat Nathanael ihn erblickt - weshalb er ‚nur’ jedes Mal ‘etwas schweren langsamen Tritts die Treppe heraufpoltern’ (8) hört. Und wieder, als er sich vornimmt, die Neugierde nicht mehr aushaltend, sich im Zimmer des Vaters zu verstecken, lauscht er der Haustüre, die sich knarrend öffnet und dann ‘ging es, langsamen, schweren, dröhnenden Schrittes nach der Treppe’. Nathanael hastet in den offenen Kleiderschrank des Vaters, denn ‘- Näher - immer näher dröhnten die Tritte - es hustete und scharrte und brummte seltsam da draussen.’ (11). Zu beobachten ist hier erneut, dass das noch ungeschaute Unheimliche nicht menschlich, nicht personal, eher identitäts- und gestaltlos, ein undefinierbares ‚Es’ ist. Der Leser erfährt erst mit den Augen der fiktiven Figur Nathanael, wer der Unbekannte ist. Als dieser ihn erblickt, kommt es zur verhängnisvollen Identifikation, die man auch als Leser geneigt ist, während der Erzählung mehrere Male vorzunehmen: ‘der fürchterliche Sandmann ist der alte Advokat Coppelius’ (11). Die Gestalt des möglichen Doppelgängers Coppola hat ebenfalls die Frechheit, direkt in Nathanaels ‘Stube’ (7) seiner Wohnung im Studienort G. zu treten. Durch den, zumindest temporär vom Ich-Erzähler und seinem Grossonkel V. bezogenen Gerichtssaal des Schlosses im ‘Majorat’ spukt es - und nach Jennings ist dieses ‚Spuken’ einer von ‚nur’ zwei Belegen in den Werken Hoffmanns, wo das Wort ‚Spuk’ im eigentlichen Sinne, als das objektiv von mehreren Beobachtern bezeugte, von Schuld oder Unerfüllung bedingte Umgehen eines Verstorbenen, eines Wiedergängers, verwendet wird und das Phänomen nicht als subjektive Erfahrung, Traum, Illusion, Fantasie oder Projektion abgetan werden kann. Doch vor diesem Spuk werden wir Zeuge eines andersartigen, eines ‚Callotschen Spuks’: Nachdem der Grossonkel zu Bett gegangen ist, befindet sich der Ich-Erzähler ‘Theodor’ (217) allein im Gerichtssaal und beobachtet die mit ‘fantastischer Bilderei’ bemalten Wände, die im Licht des Mondes und des Feuers ‘in graulicher Wahrheit’ zu leben beginnen und wo die ‘in Holz geschnitzte[n] Tier- und Menschenköpfe’ (202) hervorzuspringen scheinen. Kurz darauf ereignet sich der besagte, tatsächliche Spuk, den der Ich-Erzähler, dessen ‘Lebensgeister’ durch ‘Punsch’ (202) und die ‘Fantasie’ durch das Lesen von Schillers ‘Geisterseher’ ‘erhitzt’ sind, über sich ergehen lassen muss. Bereits zuvor fühlt er ein ‘Frösteln, das man bei einer lebhaft dargestellten Gespenstergeschichte empfindet und das man so gern hat’. Im nächsten Moment dürfte ihm klar werden, dass er sich mitten in einer befindet, denn als in der Erzählung Schillers ‘Jeronimos blutige Gestalt eintritt’, öffnet sich plötzlich auch die Türe im Gerichtssaal, worauf Theodor vor Schreck das Buch fallen lässt, seiner Einbildung die Schuld gibt und weiter lesen will. Doch ‘da geht es leise und langsam mit abgemessenen Tritten quer über den Saal hin, und dazwischen seufzt und ächzt es’. Paradoxerweise glaubt Theodor das Seufzen sei ‘Ausdruck des tiefsten menschlichen Leidens’ bei gleichzeitiger Annahme, dass es sich um ‘ein armes eingesperrtes Tier’ (203f.) handelt. Da das durch die eigene Stube schreitende Unheimliche seine Gestalt noch nicht offenbart hat, bleibt es nicht zuordbar, kündigt sich, wie in ‘Ignaz Denner’ und im ‘Sandmann’, zwar mit Furcht erregenden Tritten an, ist aber noch gestaltlos und - gemäss der in ‘Jaques Callot’ von Hoffmann entwickelten, grotesken Schaffensweise - ein menschliches oder tierisches ‚Es’. Die Gestaltlosigkeit zeigt sich als Teil der textuellen, wörtlichen Ebene, wo gleichsam die Ankunft von etwas Monströsem suggeriert wird. In den noch nicht erwähnten ‘Nachtstücken’ taucht das Unheimliche nicht mit dieser Gewalt im Heimischen, wohl aber doch im Vertrauten und mit denselben Erscheinungsmerkmalen auf. Die wunderlichen, weniger unheimlichen Ereignisse in der Erzählung ‘Das steinerne Herz’ spielen auf, zumindest für die Teilnehmer am ‘Fest der alten Zeit’ (319), vertrautem Boden, wobei das Unheimliche im Wesentlichen vom ‘auf altertümliche groteske Weise’ (314) geschmückten Anwesen des Hofrats Reutlinger, dem ‘finstern Hain’ (315) und dem Pavillon mit dem steinernen Herz ausgeht. Denn genau an jenem Ort, der für den Hofrat sehr vertraut sein muss, bedenkt man, dass er dort seinem eigenen Herzen ein Grabmal bauen liess, geschieht das Unsägliche: Des Hofrats ‘Schritte’ lenken sich während dem Fest ‘unwillkürlich [...] nach dem Wäldchen’. ‘Die Tür des Pavillons steht offen - ich erblicke - mich selbst! - mich selbst! - [...] - die Gestalt - ich - ich lag auf dem Boden vor dem Herzen’ (334f.), bringt Reutlinger nur stotternd hervor, als er seinem Freund Exter, der ihn ins Bewusstsein zurückgeholt hat, von der unheimlichen Begegnung mit seinem dreissig Jahre jüngeren ‚Doppelgänger’ berichtet. Im Übrigen ist diese vermeintliche Doppelung durch das zweimalige Nennen von ‚mich selbst’ und ‚ich’ meisterhaft onomatopoetisch realisiert. Vertraut ist die Allee, in der sich das öde Haus befindet und in dessen Bann Theodor im gleichnamigen ‘Nachtstück’ gerät. ‘Schon oft [hat er] die Alle durchwandelt, als [ihm] eines Tages plötzlich ein Haus ins Auge’ fällt. Man kann sich fragen, obwohl der kundige Hoffmann-Leser natürlich auf derartige Wunderlichkeiten gefasst sein muss, warum Theodor das Haus nicht früher aufgefallen ist, wenn es, wie er beschreibt, auf solch ‘wunderliche seltsame Weise von allen übrigen abstach’ (162). Trotz der ‘prosaischen Aufklärung’ des Theodor bekannten Grafen P., dass es sich nicht etwa um ein verlassenes Geisterhaus handle, sondern um eine Zuckerbäckerei, muss Theodor ‘immer vorübergehend nach dem öden Hause hinschauen’ (164). Auch wenn er sich zwischenzeitlich durchaus selbstkritisch sieht und das vermeintlich Wunderbare bezweifelt, befängt ihn das seltsame Haus vom ersten Erblicken an. ‘Die Jesuiterkirche in G.’ und ‘Das Sanctus’ unterscheiden sich insofern von den obigen Ausführungen, als dass das Unheimliche nicht so ausgeprägt in Heimisches eindringt und vorwiegend mit den Figuren und den eingelassenen Binnentexten zusammenhängt, was noch zur Sprache kommen wird.
Thomas Meyer, Master of Arts UZH, wurde 1981 in St. Gallen, in der Schweiz geboren. Schon als Kind hat er tagelang gelesen – die Liebe für Bücher hat dann schliesslich entscheidend dazu beigetragen, Germanistik zu studieren. 2007 hat Thomas Meyer das Studium mit Germanistik im Hauptfach und Computerlinguistik im ersten Nebenfach erfolgreich mit einem Master of Arts abschliessen können. Seither hat Thomas Meyer im Bereich der Computerlinguistik gearbeitet und vor 2 Jahren das Doktorandenstudium an der EPFL in Lausanne aufgenommen, wo er zur Zeit zum Thema 'Maschinelle Übersetzung und Diskusstruktur' forscht.
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